Kimberly A. Rivers: Preaching the Memory of Virtue and Vice. Memory, Images, and Preaching in the late Middle Ages (= Sermo: Studies on Patristic, Medieval, and Reformation Sermons and Preaching; Vol. 4), Turnhout: Brepols 2010, XVII + 377 S., ISBN 978-2-503-51525-0, 85,00
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"Memoria", also der Themenkomplex von Gedächtnis und Erinnerung, wird in der Mittelalterforschung in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutiert. Ein großer Bereich religiöser Kommunikation findet dabei bislang vergleichsweise wenig Beachtung: die Predigt. Hier setzt die vorliegende Studie von Kimberly Rivers an, die die Homiletik der Mendikanten unter mnemonischen Aspekten untersucht.
Die Darstellung ist im Wesentlichen chronologisch aufgebaut, Teil 1 (The Transformation of Memory in the High Middle Ages) behandelt die Erinnerungstechniken antiker Rhetoriklehren und deren teilweise nur schwer belegbare Rezeption im Mittelalter. Daran schließen sich Überlegungen zu den Methoden an, die in den Klöstern des Frühmittelalters gepflegt wurden. Im 12. Jahrhundert lassen sich gerade an den Kathedralschulen wichtige Transformationen beobachten, was exemplarisch anhand der Schriften Hugos von St. Viktor ausgeführt wird. Eine Neubewertung antiker Gedächtnis- und Rhetoriktheorie im Zuge der intensivierten Aristotelesrezeption macht Rivers dann um die Mitte des 13. Jahrhunderts aus, zunächst in den Kreisen der Dominikaner. Weniger beachtet wurden bislang franziskanische Gelehrte, die sich, wie etwa die Schrift De modo addiscendi des Pariser Theologen Guibert von Tournai zeigt, weiterhin an den Konzepten Hugos von St. Viktor orientierten. Noch größeren Einfluss innerhalb des Ordens entfaltete ungefähr zeitgleich David von Augsburg. Er behandelt Fragen von Erinnerung und Gedächtnis in seiner weit verbreiteten kontemplativ-monastischen Lehrschrift De exterioris et interioris hominis compositione allerdings im Anschluss an andere, nämlich zisterziensische Traditionen. Sein Ziel ist die Abwendung der "memoria" von Bildern des Lasters und die Hinwendung zu den Tugenden und letztlich die meditative Konzentration auf Gott. Derartige monastische Praktiken wirkten sich wohl auch auf die Gestaltung von Predigten aus, die häufig in bildhafter Weise Tugenden und Laster thematisierten.
Der zweite Teil des Buchs (Constructing the Preacher's Memory) verfolgt das Thema weiter in die Zeit um 1400. Nun rücken auch Predigtlehren in den Blick, insbesondere diejenige des Francesc Eiximenis, in der Mnemotechnik explizit behandelt wird, was ein Unikum innerhalb der artes praedicandi zu sein scheint. Deutlich wird die Hinwendung der Franziskaner zur antiken Mnemonik erkennbar. Vermutlich war Francesc mit der Topiklehre der Rhetorica ad Herennium vertraut, die er auf religiöse Deutungsmuster wie die Gaben des Hl. Geistes übertrug. Dabei hatten er und andere Prediger stets auch die Laien im Blick, denen ebenfalls eingängige Strukturen für die Erinnerung von Predigten vermittelt werden sollten. Um Predigten besser memorierbar zu machen, wurden trotz der Kritik von verschiedenen Seiten zunehmend exempla integriert. Zu diesen exempla zählt Rivers auch einige schwer deutbare Personifikationen von Tugenden, Lastern und antiken Gottheiten in Versform, sogenannte "picturae" oder "imagines". Sie finden sich insbesondere bei einigen englischen Mendikanten des 14. Jahrhunderts, die in der Forschung wegen ihrer besonders intensiven Auseinandersetzung mit der Literatur der klassischen Antiken als "classicizing friars" bezeichnet werden.
Aus ihrem Kreis behandelt Rivers die Franziskaner John Ridevall und den Dominikaner Thomas Holcot, die beide in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts als Theologen in Oxford wirkten. Auf Ridevall geht ein moralisierender Kommentar zu den Mitologiarum libri tres des spätantiken Autors Fulgentius zurück, auf Holcot einer über die Bücher der sogenannten "kleinen" Propheten des Alten Testaments. In beiden Kommentaren finden sich Passagen mit kurzen bildhaften Reimallegorien, in denen Laster wie Idolatrie, Ausschweifung, Ungeduld und Stolz, aber auch Tugenden wie Geduld als mythologische Figuren personifiziert und christlich gedeutet werden. Rivers plädiert dafür, diese kurzen Gedichte als Vorlagen für die distinctio einer Predigt aufzufassen, die häufig in Reimform formuliert wurde. Mit ihrer Hilfe sollte die divisio des Hauptteils weiter untergliedert und diese Substruktur von lateinkundigen Predigern leichter memoriert werden. In den eigentlichen Vortrag wurden sie wohl nicht übernommen, zumal nicht in Predigten vor Laien, da diese für gewöhnlich in der Volkssprache gehalten wurden und die Reime nur schwer zu übertragen waren. Vermutlich trugen sie aber dazu bei, bildhafte Strukturen verstärkt in Predigten zu implementieren, die so auch Laien besser im Gedächtnis blieben.
Auf dem Kontinent fanden diese Gedächtnishilfen für Prediger und Adressaten bald ebenfalls Verbreitung, was in Teil drei (The Spread of Mnemonic Exempla) ausgeführt wird. In Frankreich lässt sich die Rezeption nicht bei den Mendikanten nachweisen, sondern vor allem bei dem Benediktiner Pierre Bersuires und dem Johanniter Jean de Hesdins. Aus dem deutschen Sprachraum analysiert Rivers die weit verbreitete Predigtsammlung Dormi secure, die vermutlich franziskanischer Provenienz ist. Allerdings wurden hier nicht Holcot und Ridevalls Kommentare direkt, sondern lediglich Exempelsammlungen rezipiert, die daraus schöpften. So wird gut nachvollziehbar, wie mnemonische Strukturelemente der gelehrten Kommentarliteratur Eingang in den pastoralen Alltag fanden.
Das Kapitel zu Italien behandelt mit Giovanni da San Gimignano und Bernardino da Siena ebenfalls Prediger aus den Reihen der Bettelorden, bleibt aber insgesamt doch etwas zu skizzenhaft, um zu überzeugen. Auch die Zusammenfassung, die nicht ganz zwei Seiten umfasst, hätte man sich angesichts der komplexen Thematik doch etwas weniger knapp und holzschnittartiger gewünscht.
Die etwas unausgewogene Anlage der Monografie dürfte wohl auf den langen Entstehungszeitraum zurückzuführen sein, stammen die Kernkapitel doch aus einer 1995 eingereichten Dissertation, andere Teile wurden bereits als Zeitschriftenartikel veröffentlicht. Sie erschwert die Lektüre doch ein wenig, auch wenn sie sich insgesamt durchaus lohnt. Rivers weist die große Bedeutung der englischen Antikenrezeption des 14. Jahrhunderts für die Gestaltung und Memorierung von Predigten schlüssig nach und eröffnet so eine spannende Perspektive für zukünftige Studien im weiten Feld der Predigt- und Memoria-Forschung.
Georg Strack