Martin Hagmaier: Rhetorik und Geschichte. Eine Studie zu den Kriegsreden im ersten Buch des Thukydides (= Bd. 94), Berlin: De Gruyter 2008, 265 S., ISBN 978-3-11-020691-3, EUR 98,00
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Die "Thukydideische Frage" dürfte eine der wirkmächtigeren Forschungsdebatten in den Altertumswissenschaften sein. Die Streitigkeiten um die Einheitlichkeit (Unitarier) oder Versatzstückhaftigkeit (Analytiker) des thukydideischen Geschichtswerks entzweit schon mehr als 150 Jahre die Forschung, wobei die Analytiker lange Zeit die Oberhand zu gewinnen schienen. Nun hat Martin Hagmaier mit seiner an der Universität Regensburg eingereichten Dissertation infolge der Analyse der Kriegsreden im ersten Buch gewichtige Argumente für die Einheitlichkeit zumindest des ersten Buches in die Waagschale geworfen.
Hagmaier entwirft in der Einleitung (1-39) seine insgesamt überzeugende Argumentationskette am Dreh- und Angelpunkt des ersten Buches, der analytischen Durchdringung der Entstehung des Krieges durch Thukydides (Thuk. 1,23,4-6). Anhand der stilistischen Komposition der Passage kann er nachvollziehbar zeigen, wie eng Gründe (αìτίαι καì διαψoραί) und die tiefere Ursache (ἀ ληθεστάτη πρóψασις) in Verbindung stehen und dass alle Versuche, diesen beiden Seiten einen unterschiedlichen Entstehungskontext im Sinne der Analytiker zuzuordnen, unbrauchbar sind. Als Folge sieht er auch die Formulierung ἀψανεστάτη λóγψ (Thuk. 1,23,6) nicht ohne weiteres auf die von Thukydides gestalteten, also nicht der historischen Faktizität entstammenden Reden im ersten Buch anwendbar, sondern entwickelt die für den Untersuchungsgang leitende Hypothese, dass gerade in den Reden durch eine bewusst von Thukydides herbeigeführte Synthese von αìτίαι καì διαψoραί und ἀληθεστάτη πρ óψασις sowie deren Wechselwirkung erst die vollständige Erklärung des Krieges liege.
Diese Leitidee untersucht er zunächst bezüglich der Tagsatzung in Sparta mit der ersten Redentetras (40-161), dem Kern seiner Untersuchung. Er erweist hier nicht nur die fein gestaltete innere Komposition jeder einzelnen Rede, sondern auch vielfältige, teils wörtliche Bezüge der vier Reden aufeinander; insbesondere die beiden so unterschiedlich angelegten, aber jeweils in ihrer rhetorischen Schlagkraft äußerst wirksamen Reden des Spartanerkönigs Archidamos und des Ephoren Sthenelaidas kann er als deutlich miteinander zusammenhängend erweisen, ein Umstand, der von der bisherigen Forschung so nicht wahrgenommen wurde. Insofern bilden die Reden, allen voran die letztlich zum Kriegsentschluss führende des Sthenelaidas, den Spiegel für die vorher von Thukydides postulierte ἀληθεστ άτη πρóψασις, den Machtzuwachs der Athener und die teils irrationale Angst (insbesondere) der (kriegssüchtigen jüngeren Generation der) Spartaner hiervor.
Bei der folgenden Analyse der Korintherrede auf der Versammlung des Peloponnesischen Bundes nach dem Kriegsbeschluss der Spartaner sowie dem Überblick über die Pentekontaetie erweist Hagmaier erneut, wie eng verflochten diese Rede mit den vorigen auf der Tagsatzung in Sparta ist (162-194). Einerseits zeigt er auf, wie die Rede der Korinther nun, im Gegensatz zur vorigen Hetzrede mit Angriffen auf Sparta als Hegemon des Peloponnesischen Bundes selbst, nicht mehr in Richtung der inneren Machtverhältnisse im Bund gerichtet ist, sondern zum einheitlichen und entschlossenen Vorgehen aller Bündnispartner auffordert; dabei werden auch bewusst Gegensätze zur vorigen Argumentation bzw. innere Widersprüche innerhalb der Rede in Kauf genommen. Andererseits legt er auch die teils ironischen Anspielungen auf die erste Archidamosrede offen (180, Anm. 64) und arbeitet heraus, wie sehr der die strategischen Schwächen überdeckende Tatendrang der Korinther hier gekonnt seitens Thukydides mit der analytischen Weitsicht des Archidamos kontrastiert wird.
Diese Weitsicht, hier hinsichtlich der Unvermeidbarkeit des Krieges, schreibt Thukydides auch Perikles in dessen Rede bei der Volksversammlung in Athen zu, wie Hagmaier deutlich erweist (195-236). Die geschickte Zuspitzung der Kriegsfrage seitens der spartanischen Gesandtschaft auf die Aufhebung des Megarischen Psephisma zur Wiederherstellung der Autonomie dieser Polis, entlarvt der thukydideische Perikles in subtiler Rhetorik so als bloßes taktisches Manöver, um die Athener zu spalten. Wenn dieser dann umgekehrt den Krieg als in Wahrheit schon unmittelbar bevorstehend darstellt und die Machtblöcke - ähnlich und teils wörtlich wie vorher Archidamos auf der Tagsatzung in Sparta oder die Korinther bei der Versammlung des Peloponnesischen Bundes - charakterisiert, gelingt ihm durch Verknüpfung mit einer konkreten Kriegsstrategie (Oberhoheit zu Wasser, Schutz der Stadt zu Lande) das Kunststück, sich nicht als "verantwortungslose[r] Kriegstreiber" (235), sondern als Führer letztlich eines Verteidigungskrieges zu gerieren.
In seiner Zusammenfassung (237-253) betont Hagmaier noch einmal deutlich die in allen sechs Reden vorzufindende enge Synthese von Kriegsgründen und Kriegsursachen, womit er den inneren Zusammenhalt des ersten Buches verdeutlicht. Bei diesem schon überzeugenden Ergebnis bleibt er jedoch nicht stehen, sondern fragt weiter nach dem Sinn der Verlagerung der historischen Analyse in diese Reden seitens Thukydides. Hier betont er zu Recht den aus dem Methodenkapitel (Thuk. 1,22) entspringenden didaktischen Anspruch der Reden, die den Leser einerseits die Komplexität der Situation veranschaulichen, andererseits durch aktives Miterleben den Anspruch nach analytischer Durchdringung historischer Prozesse (Thuk. 1,22,4) fördern sollen. Dass Thukydides dabei im Hintergrund eine gleichbleibende menschliche Physis vermutet, aus der eben ein Lerneffekt für die Zukunft anhand des von ihm konstruierten Modells "Peloponnesischer Krieg" erwachsen möge, erweise die Reden, so Hagmaier, einmal mehr als "ideale Wirklichkeit" (250).
Summa summarum legt Hagmaier eine bestechend scharfe, feinsinnig die thukydideische Komposition aufdeckende Studie vor, welche die weitere Thukydides-Forschung mithin bestimmen und über die Thukydideische Frage hinaus anregen wird.
Sven Günther