Leo Costello: J. M. W. Turner and the Subject of History, Aldershot: Ashgate 2012, XX + 270 S., 31 Farb-, 102 s/w-Abb., ISBN 978-0-7546-6922-7, GBP 65,00
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"This book ends where it began: with Turner's history paintings of destruction and his destruction of history painting" schreibt Leo Costello zu Beginn seiner Schlussbetrachtung (233) und definiert mit dieser Inhaltsangabe nicht nur Anfang und Ende seiner Ausführungen, sondern auch die 231 Seiten Wegstrecke dazwischen. In fünf Kapiteln bearbeitet Costello Turners "history paintings rather than landscapes" (2) und positioniert sich mit dieser Eingrenzung gegen die geläufige Auffassung, bei Turner sei das Ende der Historien zugunsten der Landschaftsmalerei besiegelt worden. [1] Stattdessen geht er davon aus, dass Turner der traditionellen (britischen) Historienmalerei besondere Wertschätzung entgegenbrachte (55, 136) und dass Übergänge zwischen den Gattungen Historie und Landschaft als Zeichen dafür zu deuten seien, dass Turner nicht nur beständig die (Neu-)Gewichtungen dieser Gattungen verhandelt habe (70, 91), sondern dass dieses Austarieren und Verschmelzen der Gattungen sein eigentliches künstlerisches Thema gewesen sei (167f.).
Im ersten Kapitel vergleicht er The Battle of Trafalgar mit Benjamin Wests The Death of General Wolfe (1770) in Bezug auf die Relation zwischen dem Subjekt (in Trafalgar der sterbende Admiral Nelson) zur umfangreichen Schlachtenszene, in deren Mitte der death-of-the-hero stattfindet (16). Costello legt dar, "Nelson's death" erscheine im Gegensatz zu Wolfes Sterben "almost anecdotal compared to the overall sweep of the battle" und Nelson werde in seiner Bildwirkung entsprechend relativiert (21). Aufgrund der repräsentativen Funktion des Bildhelden betreffe diese Relativierung auch "the role of the individual male subject" (33) im Allgemeinen, also das "elite subject" (33) ebenso wie den Künstler, der mit dem Pinsel Geschichte schreibt (32). Im Zuge seiner soziologischen Betrachtungen bezüglich der Infragestellung staatlicher Repräsentation durch Einzelpersonen im frühen 19. Jahrhundert kommt Costello zu dem Schluss, dass es vor allem die Künstler gewesen seien, die noch über (Bild-)Mittel verfügt hätten, die Rolle des "unifying subject" (36) zu übernehmen. Turner sei es gelungen, in seiner Darstellung der Schlacht bei Trafalgar einerseits eine Szene von "unbridled, apocalyptic violence" vorzuführen, andererseits aber auch ein "conservative element" zu veranschaulichen, "namely, the figural group, and an innovative element of the surrounding informational details and immediacy of battle" (56).
War Turner mit Historiengemälden an allseits bekannte repräsentative Ereignisse gebunden, so konnte er sich mit Darstellungen Schiffbrüchiger ganz der künstlerischen Verkörperung der Naturmächte und ihrer Opfer widmen. Im zweiten Kapitel geht Leo Costello vor allem auf The Shipwreck (1805) und eine Reihe korrespondierender Skizzen ein. "The ship [...] is presented in fragmentary form with bits of sail, yards and mast visible in small sections. By this device, Turner represented the process of disintegration itself", schreibt Costello und fährt fort: "It is not merely that Turner was seeking to illustrate disintegration, then, but allow it to inform the very process of composition itself." (76) Spätestens an dieser Stelle hätte der Leser einen Hinweis darauf erwartet, dass Turner allgemein als Vorreiter moderner, insbesondere abstrahierender Formensprache angesehen wird, doch Costello wertet - mit konzentriertem Blick auf die Historienmalerei - den Umschlag von Gegenständlichkeit in Farbkompositionen von primär atmosphärischem Charakter beständig als "creation" durch "destruction" im Sinne einer "interpenetration of disintegration and consolidation of empire" (67) ebenso wie des Künstler-Subjekts. Turner hatte, so Costello, "an early awareness of the linkage between the destruction of the ship and the creation of his reputation and fortune".
Daran schließt das dritte Kapitel mit einer eingehenden Betrachtung der Turner'schen Praxis der Bildüberarbeitung im Rahmen der Varnishing Days in den Tagen vor Eröffnungen der Akademie-Ausstellungen an. Turner habe in Kenntnis des Ausstellungskontexts seine Werke so vollendet, dass sie benachbarte Gemälde dominierten. Costello zitiert E. V. Rippingilles einprägsame Formulierung, "Turner [...] could outwork and kill any painter alive" (114) [2], um den Aspekt der Gewalttätigkeit hervorzuheben, die Turners Performances (124) auszeichnete und die Wettkampf-Stimmung zu beschreiben, mit der an der Akademie um die besten Plätze gestritten wurde (119). Mit Recht lassen solche Kämpfe auch an der Einheit der Künstlergemeinschaft zweifeln und ihre Fähigkeit infrage stellen, die Akademie als Repräsentantin einer geeinten Nation zu etablieren (120).
Erst im vierten Kapitel, mit Blick auf die Serie der Venedig-Darstellungen der 1840er-Jahre, geht Costello auf die Verbindung Turners zu "subsequent movements within mainstream formal modernism, including Impressionism and abstraction" (143) ein, wobei die Kategorisierung "mainstream formal modernism" die Abwertung schon erahnen lässt, mit der Costello sich dieses Themas annimmt. Adäquater wäre es gewesen, die Positionen, die der Autor zurückweist, zunächst ernst zu nehmen, um sie dann auch substanziell kritisieren zu können. Stattdessen lässt Costello sogar seine andernorts problemlos eingehaltene Regel des Fußnotennachweises vermissen, wenn er bezüglich der "applicability of modernist-formalism to Turner's pictures" mitteilt, "John Gage and a number of other Turner scholars have found this approach insufficient" (144).
Costellos ausführliche Kommentare zu den Venedig-Darstellungen kulminieren in der überraschenden These, diese ließen die Stadt zu Natur, zur Landschaft werden: "[R]ather than seeing the progress towards the evocation of natural beauty as a rejection of historical narrative entirely, we can see now that for Turner the progress from history into landscape was itself a narrative" (168). Überraschend, weil Costello es zuvor vermieden hatte, Turners Historien als Landschaften aufzufassen. An den Venedig-Gemälden will Costello die Tendenzen zur Abstraktion nicht akzeptieren, betont jedoch die 'Verlandschaftlichung' der Stadt, ohne zu klären, weshalb diese nicht schon bei den Historien ablesbar war. Stattdessen kehrt er zu seiner Argumentation zurück, Turner habe die Gattung der Historienmalerei als ganze zum Thema seiner Malerei erhoben, mit dem "desire to refigure the demands of history painting to the altered conditions of the early nineteenth century" (173). Doch die Behauptung ist noch kein Beleg. Diesen bleibt Costello schuldig, beim Leser aber entsteht der Eindruck, die "notion of decline and fall in Venice risks becoming a master narrative here" (169).
Überzeugender setzt Costello seinen Weg der Interpretation von Historienbildern im fünften und letzten Kapitel am Beispiel des Slave Ship (1840) Turners fort. Das ist nicht nur der umfangreichen Rezeptionsgeschichte des Gemäldes geschuldet, die Costello darlegt, sondern vor allem damit zu begründen, dass ein konkretes historisches Thema, die Sklaverei in den britischen Kolonien und die Praxis auf Slave Ships, Sklaven über Bord zu werfen, um in den Besitz eines Kopfgeldes zu kommen, den Ausgangspunkt bildet. In der Darstellung eines Sklavenschiffs in weiter Entfernung und einer ertrinkenden Sklavin mit durch den unteren Bildrand abgeschnittenem Kopf erkennt Costello eine "sceptical vision of history" (203), die weder an die Abschaffung der Sklaverei glauben (das Schiff segelt weiter), noch an der Ohnmacht des versklavten Individuums zweifeln (mit bildnerischen Mitteln wird die schwarze Frau ertränkt und geköpft) lässt. Es scheint, als habe Turner ein Bild gemalt, "that repeats the crime itself" (223). Turner, so Costello, habe damit ein "end to the tradition of history painting" gesetzt, das nicht nur als Mahnung zu deuten sei, diese dunkle Seite des British Empire im Bewusstsein zu halten, sondern auch auf William Turners persönliche Verstrickung verweise, denn dieser hatte 1805 Geld in einen von Sklaven bewirtschafteten kolonialen Rinderzuchtbetrieb investiert (222).
Leo Costello hat sich für seine Publikation die sehr umfangreiche angelsächsische Literatur zu Turner erarbeitet, sodass der Leser eine Fülle rezeptionsgeschichtlicher Positionen vom 19. Jahrhundert bis heute kennenlernt. Das Geflecht von Zitaten und eigenen Passagen gerät stellenweise so dicht, dass es kaum noch gelingt, den Anteil des Autors genau zu bestimmen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Vielfalt der Exkurse zum Trotz Costello seine Kernthese: Dass Turner als Künstler-Subjekt ("subject"), nicht nur Historien, sondern die Gattung der Historienmalerei und ihre Destabilisierung, also die Kunst-Geschichte zum Thema ("subject") seiner Gemälde erhebe, in einer im letzten Drittel geradezu litaneihaften Wiederholung artikuliert. Möglicherweise ist der Grund hierfür auch darin zu suchen, dass der Autor einige Themen des Buchs in früheren Jahren bereits in einer Reihe von Aufsätzen veröffentlicht hat [3], und Verlag und Autor auf ein gründliches Lektorat ihrer Zusammenführung und Erweiterung als Buch verzichtet haben. So sei der Band als Lesebuch empfohlen, dessen Schwächen sich bei passagenweisem Studium weniger abzeichnen werden und das mit einem ebenso opulenten wie qualitätvollen Abbildungsteil immer wieder für Turners Malerei begeistern kann.
Anmerkungen:
[1] Zuletzt: Monika Wagner: William Turner, München 2011, 69; vgl. auch meine Rezension zu dieser Publikation unter: sehepunkte 12 (2012), Nr. 2 [15.02.2012], URL: http://www.sehepunkte.de/2012/02/20180.html (abgerufen am 1.2.2013).
[2] E. V. Rippingille: Personal Recollections of Great Artists, Nr. 8, Sir Augustus W. Callcott, R. A., Art Journal (1.4.1860), Nr. 22, 100.
[3] http://arthistory.rice.edu/content.aspx?id=382 (abgerufen am 1.2.2013).
Marvin Altner