Steven Johnstone: A History of Trust in Ancient Greece, Chicago: University of Chicago Press 2011, XII + 242 S., ISBN 978-0-226-40509-4, GBP 29,00
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Vertrauen findet aktuell in der Analyse politischer (und ökonomischer) Systeme großes Interesse, gewiss auch befördert durch Erfahrungen aus unserer Zeit. Institutionengefüge, seien sie noch so ingeniös konstruiert und ausbalanciert, können nicht funktionieren, wenn der 'Schmierstoff' fehlt, eben jenes Vertrauen eines Akteurs in die Absichten und Handlungsweisen der anderen Teilnehmer in einem System. Das gilt selbst für kleine Gemeinschaften, die überwiegend im face-to-face-Modus laufen, ganz evident jedoch für größere Bürgergemeinschaften, wie sie im klassischen Athen und im Rom der Republik bestanden. Jüngst hat Jan Timmer einleuchtend gezeigt, dass ein politisches Systemvertrauen in gemeinsame Institutionen mindestens ebenso wichtig ist wie das personenbezogene Vertrauen in die 'republikanische' Tugend der Mitbürger. So seien die Athener im 4. Jahrhundert weit eher bereit gewesen, im politischen Prozess unterschiedliche Interessen zuzulassen, während im 5. Jahrhundert eher Homogenität und Konformität - also das Ideal des klassischen Republikanismus - die Norm gebildet hätten. [1]
Auch Steven Johnstone betrachtet Vertrauen nicht als eine 'ursprüngliche', gleichsam naturhafte Ressource, die immer mehr von abstrakten Systemen - er nennt Geld, Maße und Gewichte, Recht und Rhetorik - abgelöst worden wäre, sondern im Gegenteil als Resultat der Implementierung solcher Systeme (verstanden im Sinne Luhmanns). [2]
In der Einleitung skizziert Johnstone sein Thema und umreißt (zu knapp) Begriffe wie Vertrauen, System und Praxis. Er konzentriert die Untersuchung auf das klassische Griechenland, in erster Linie Athen, doch werden auch immer wieder Zeugnisse aus späterer Zeit herangezogen. Das zweite Kapitel macht unter dem Stichwort 'Feilschen' (haggling) auf eine fundamentale Asymmetrie beim Handel auf der Agora und anderswo aufmerksam: Der Verkäufer kann darauf vertrauen, für seine Ware Geld von gesicherter Werthaltigkeit zu bekommen, während der Käufer die Ware mangels Standarisierung und allgemein gültigem Qualitätsregime weniger leicht bewerten kann. Dieses Misstrauen des Käufers gegenüber dem Verkäufer bewirkte die Repersonalisierung eines durch das Münzgeld an sich teilversachlichten, freilich eben asymmetrischen Verhältnisses. In die Lücke trat der komplexe Vorgang des Feilschens, den Johnstone anschaulich rekonstruiert (auch wenn die 24ff. vorgestellte Exegese von Herodas' 7. Mimiambos dessen lebensweltliche Aussagekraft wohl überschätzt). Interessante Erörterungen finden sich zu Platons Kritik am Einzelhandel und zum Münzgesetz des Nikophon (SEG 26, 72 = Rhodes/Osborne Nr. 25 = HGIÜ Nr. 221).
Kapitel drei untersucht das Messen von Quantitäten; auch dabei spielte persönliches Vertrauen eine große Rolle, während Standardmaße und Dokumente allenfalls subsidiär Gewicht hatten. Johnstone nimmt den Getreidehandel und -umschlag als Beispiel. Er stellt klar, wie wenig überlieferte Mengen-Preis-Relationen verallgemeinert werden dürfen, da sie immer Ergebnisse eines besonderen Aushandlungsprozesses darstellten, der auch die schwankende Qualität der Ware einzuschließend hatte, und exaktes Messen die Transaktionskosten merklich steigerte, weswegen es wenn möglich vermieden wurde. Standarisierte Maße hatten allenfalls im Einzelhandel eine gewisse Bedeutung. Die alte, meist antiquarisch betriebene Kunde von den Maßeinheiten (Metrologie) wird hier zur Archäologie der sozialen Praxis des Messens. Die von Johnstone entfaltete Beinahe-Virtualisierung des guten alten Medimnos wird nicht jeden Leser überzeugen, aber doch zum Nachdenken anregen.
Dass die Festlegung von Abgaben aller Art außerhalb des ptolemäischen Ägypten nicht auf einer präzisen Erfassung von Erträgen basierte, sondern auf Schätzungen und eidlich bekräftigten Selbstdeklarationen (Kap. 4, "Keeping Track"), war im Umriss schon bekannt und wird von Johnstone untermauert. Im fünften Kapitel ("Valuing") vollzieht der Autor endgültig den Schritt vom Oikos beziehungsweise binären Beziehungen im Handel zu komplexeren Einheiten, indem er die Übertragung von Geldwertkategorien in den nicht-ökonomischen Bereich untersucht. Schier allem konnten die Griechen einen Preis ankleben: kultischen Gaben, Menschen, der Freundschaft, der Freiheit, Strafen und Belohnungen oder auch dem Bürgerrecht (81). Die Geschichte der timêmata ("civic valuings") folgt bei Johnstone trotz aller Differenzierungen einer recht klaren Linie "from unilateral declarations to comprehensive, objective censuses, from qualifying activities to pure wealth qualifications" (100). In diesem Rahmen werden die überlieferten, notorisch problematischen Zensusqualifikatione in Athen von Drakon bis 318 v.Chr. sowie die Grundordnung Kyrenes aus dem Jahr 321 (SEG 9, 1) erhellend diskutiert.
Im sechsten Kapitel geht es Vertrauen zwischen Akteuren, die zufällig (etwa durch Los) und ohne einander zu kennen in einem Kollegium zusammenzuwirken hatten. Vertrauen konnte hier in erster Linie aus der Beachtung der Verfahren und aus geeigneten Handlungen (z.B. gemeinsamem Essen) erwachsen. Johnstone erörtert das Problem von Führung und Gleichheit in solchen Gremien sowie ihre Schwächen (zumal im militärischen Bereich). Dies weiterführend geht es im folgenden Abschnitt um die vielfältigen Formen, in denen Kollegien Rechenschaft ablegen mussten und zur Verantwortung gezogen werden konnten. Die Drohung einer kollektiven Bestrafung mag "group participation, solidarity, and trust" (127) gestärkt haben, doch die Dynamik des - von Johnstone 133-137 diskutierten - Arginusenprozesses weist eher in die Richtung des aus der Entscheidungstheorie bekannten Gefangenenexperimentes. Um Vertrauen ging es dabei weniger. [3]
Im abschließenden Kapitel greift Johnstone Ergebnisse einer früheren Monographie auf [4] und führt die Rhetorik als ein Mittel vor, mittels dessen komplexe Sachverhalte durch institutionelle Vorgaben (z.B. Zuspitzung auf Rede und Gegenrede), Routinen, "conventional language" und "a circumscribed set of possible things to say" (159) soweit formalisiert und vereinfacht wurden, dass eine große Versammlung in die Lage versetzt wurde zu entscheiden (148). Durchgängig setzt er die Fähigkeit der Zuhörer, das Vorgetragene mit "rhetorical skill" kritisch zu würdigen, sehr hoch an ("complexifying triangulation of rhetorical materials - from a speaker, his opponent, and the listener's past experiences", 159) und erschließt dies aus der Tatsache, dass sich das rhetorische Feld in Athen offenbar selbst zu organisieren imstande war, ohne eine die Regeln repräsentierende und deren Einhaltung überwachende Instanz. Das Buch schließt etwas abrupt mit einer erklärungsbedürftigen Paradoxie: Während die Rhetorik materiell darauf ausgelegt war, andauernd Misstrauen (nämlich gegen den bekämpften Kontrahenten) zu sähen, wurde das Vertrauen in das System der Rhetorik insgesamt dadurch nicht untergraben; "the system somehow limited the distrust it generated" (169). Eine der vorgeschlagene Erklärungen: In einem ja/nein-Entscheidungssystem werde die siegreiche Option im nachhinein auch von denen für die bessere gehalten, die zuvor anders votiert hatten; "this subsequent unconscious reappraisal would confirm people's sense that rhetoric created good choices" (169) - wohl auch weil sie durch die Rhetorik mit Argumenten ausgestattet wurden, 'ihre' Entscheidung anschließend zu begründen. Das ist sehr interessant, bedürfte aber einer Vertiefung.
Angebote wie die Systemtheorie Luhmann, die Praxistheorie Bourdieus oder das Modell der Neuen Institutionenökonomik macht Johnstone mit Augenmaß fruchtbar. Trotz mancher Idiosynkrasien liegt hier eine auf langem und gründlichem Nachdenken beruhende, differenziert vorgetragene Anthropologie des alltäglichen Vertrauens vor. Geschichte im Sinne einer prozessualen Veränderung wird allerdings nur phasenweise erkennbar, am ehesten noch im 5. Kapitel. Überwiegend argumentiert Johnstone systemisch und kontrastiert hier und da seine Befunde mit späteren oder aktuellen Zuständen. Und Johnstone schöpft seinen Gegenstand auf 170 Seiten gewiss nicht aus - so kann man monieren, dass die Rede über Vertrauen (pistis) nicht einbezogen ist -, bietet aber nicht zuletzt durch viele feine Beobachtungen und Interpretationen verschiedener Quellen eine anregende und lohnende Lektüre. Das Thema verdient auch in der Althistorie weitere Aufmerksamkeit.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Claudia Tiersch: Tagungsbericht "Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert - zwischen Modernisierung und Tradition", H-Soz-u-Kult, 10.12.2012 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4512). (18.2.2013). - Timmer bereitet eine größere Monographie über Vertrauen in der römischen Republik vor.
[2] Vgl. 2f.: "Greek citizens ran their cities successfully not because they were especially disposed to personnaly trust one another but because the political system - the protocols of working on boards, the legal mechanisms of political accountability, and, most of all, rhetoric - allowed them to act as if they did."
[3] Dazu demn.: Egon Flaig: Der Arginusenprozess. Mehrheitliches Entscheiden am politischen Tiefpunkt, erscheint in: Historische Zeitschrift 297, 2013.
[4] Steven Johnstone: Disputes and Democracy. The Consequences of Litigation in Ancient Athens. Austin 1999; s. Danielle S. Allen, http://bmcr.brynmawr.edu/2000/2000-01-05.html (18.2.2013).
Uwe Walter