Johann Anselm Steiger / Sandra Richter (Hgg.): Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung (= Metropolis. Texte und Studien zu Zentren der Kultur in der europäischen Neuzeit), Berlin: Akademie Verlag 2012, XII + 924 S., ISBN 978-3-05-005784-2, EUR 168,00
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Der vorliegende Sammelband geht auf eine internationale und interdisziplinäre Tagung vom September 2009 zurück. Er behandelt auf 924 Seiten in 57 Beiträgen die Geistes-, Kultur-, Literatur-, Religions-, Kunst-, Alltags-, Theater- und Operngeschichte der Stadt Hamburg in der Frühen Neuzeit. Der Umfang und die thematische Breite des Buches sind beachtlich und machen es für den Rezensenten nahezu unmöglich, alle Beiträge im Rahmen einer knappen Besprechung angemessen zu würdigen. Zuvorderst seien daher der Gesamtaufbau des Werkes und seine Komposition sowie die abgehandelten Themenkomplexe skizziert.
Der Band beginnt nach einer Einleitung mit zwei Überblicksbeiträgen zur Hamburger Literatur und zu Hamburger Gelehrten sowie mit einer Untersuchung zu Gotthold Ephraim Lessing. Diese drei Beiträge waren die Plenums- beziehungsweise Abendvorträge der Tagung und stehen einzeln für sich. Die übrigen 53 Aufsätze sind zu übergreifenden Kapiteln zusammengefasst, die die einzelnen Sektionen der Tagung abbilden: Theologie, Kirche und religiöse Praktiken (77-205), Wissenschaftsgeschichte, Netzwerkbildung und populäre Wissenschaft (209-357), Literatur, Theater und Publizistik (361-524), Oper und musikalische Kultur (527-700), Bildende Kunst und Architektur (703-762), Politik und Alltagsgeschichte (765-823) sowie kulturelles Handeln in Hamburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (827-898). Ein genaues und ausführliches Personenregister rundet den Band ab.
Angesichts der bloßen Zahl von Beiträgen ist es im Rahmen dieser Rezension beinahe unmöglich, eine umfassende Aussage über deren Qualität zu treffen. Zu vielfältig sind die Ansätze und Herangehensweisen, zu zahlreich die vertretenen Fachdisziplinen, die der Rezensent nicht alle mit dem gleichen Tiefblick durchschauen kann. Gerade hierin aber liegt eine der hervorzuhebenden Stärken des Bandes. Er ist wahrlich interdisziplinär und lässt in ausgewogener Form die unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Fachrichtungen zum Tragen kommen. Es ist spannend zu lesen, wie unterschiedlich ganz ähnlich gelagerte Themen und Quellen aus unterschiedlichen fachlichen Blickrichtungen befragt und gedeutet werden. Gerade angesichts einer solchen Konzeption muss sich ein Sammelband an der stringenten Abarbeitung der von den Herausgebern beziehungsweise den Tagungsorganisatoren aufgeworfenen Grundthematik und grundlegenden Fragestellungen messen lassen.
Die Komposition des Bandes ist facettenreich und ausgewogen und daher als Stärke zu loben. Neben einer Vielzahl von Themen, die nur in einzelnen Beiträgen Erwähnung finden, stechen regelrechte Dauerbrenner ins Auge: die Oper, das akademische Gymnasium, das Hamburger Zeitungswesen, der Streit zwischen Pietismus und lutherischer Orthodoxie sowie einige Persönlichkeiten wie Barthold Hinrich Brockes, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Rist, Johann Melchior Goeze, Johann Albert Fabricius, Johann Christoph Godsched, Johann Friedrich Mayer und Herman Samuel Reimarus.
Das Kapitel zu Politik und Alltagsgeschichte scheint nur auf den ersten Blick aus der Gesamtanlage des Buches etwas herauszufallen, denn auch hier liegen den Beiträgen geistes- und kulturhistorische Fragestellungen zugrunde. So untersucht Ruth Schilling die Huldigung Hamburgs gegenüber dem dänischen König Christian IV. 1603 und behandelt dabei Fragen der Repräsentation, Festkultur und medialen Aufarbeitung (793-804). Jacob Michelsen gibt einen Einblick in Umgang mit Homosexualität im frühneuzeitlichen Hamburg (805-823).
Weniger eindeutig muss hingegen das Urteil hinsichtlich der Frage nach einer stringenten Abarbeitung der durch die Herausgeber aufgeworfenen Fragen ausfallen - eine bei Sammelbänden bekanntlich häufig greifende Kritik. Im hier anzuzeigenden Beispiel lässt die bloße Anzahl der Beitragenden dieses Manko jedoch besonders deutlich zutage treten. Auch deswegen können die drei von den Herausgebern in der Einleitung formulierten Ziele nicht alle in gleichem Maße erreicht werden.
Zum einen sollen "stadt- bzw. regionalgeschichtliche[...] Wissens- und Forschungslücken durch die Erkundung vernachlässigter Quellencorpora" (5) geschlossen werden. Dies gelingt weitgehend. Die Beiträge des Bandes sind auf der Höhe der aktuellen Forschung und eröffnen durch neue Fragen und neue Blickwinkel einige neue Einsichten.
Zum anderen soll mit dem Fallbeispiel Hamburgs die aktuelle Forschung zu Metropolregionen beispielhaft vorangetrieben werden. Gerade hier aber zeigt sich ein zentrales Problem des vorliegenden Werkes. Es wird nicht definiert, was unter einer Metropolregion eigentlich verstanden wird. Kursorisch auf die Publikationen der Hans-Sauer-Professur für Metropolen- und Innovationsforschung sowie die Publikationen in den Zeitschriften Urban Studies und German Journal of Urban Studies zu verweisen (5, Anmerkung 25), ist kaum ausreichend, und leider helfen weder die weiteren Ausführungen in der Einführung noch die Gesamtschau der Beiträge weiter. Ist mit dem Terminus "Metropolregion" mehr als die Stadt und ihr direkt anschließendes Umland gemeint? Zielt die Metropolregion eher auf Vernetzungen und gegenseitige Beeinflussungen ab? Gerade für letzteres gibt es einige lesenswerte Beiträge, wie zum Beispiel den von Laure Gauthier über die Verbreitung von Kunstformen und -praktiken am Beispiel der Hamburger Gänsemarktoper (639-650). Leider aber sind die Aufsätze, die tatsächlich als ein Beitrag zum Thema Metropolregion zu lesen sind, in der Minderzahl.
Zum dritten soll die Interdisziplinarität des Sammelbandes weiterführende Perspektiven auf Hamburg und die Forschung zu Metropolregionen eröffnen, was - wie oben erwähnt - gelungen ist, und dabei gleichzeitig einen methodologisch-konzeptionellen Neuansatz erproben. Es geht - das suggeriert auch der Buchtitel - um eine neue Sicht auf den Epochenbruch zwischen "Früher Neuzeit und Aufklärung". Die Herausgeber beabsichtigen, dass von dem Sammelband "nachhaltige Impulse einer stärkeren Vernetzung von Frühneuzeit- und Aufklärungsforschung ausgehen" sollen (5). Die Historiker unter den Lesern dürfte dies erstaunen, gehört doch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts traditionell zum Kernarbeitsbereich der Frühneuzeitforschung. Die Epocheneinheit zwischen Erfindung des Buchdrucks und Napoleonischen Kriegen wird - auch gerade durch die Zuschnitte der Epochenlehrstühle und Einführungswerke zur Frühen Neuzeit - weit verbreitet betont. In der Literaturwissenschaft hingegen werden mehr die Eigenheiten von Barock und Aufklärung sowie ihre Unterschiede betont. Wenn der Sammelband zu einer Annäherung der Epochenzuschnitte zwischen den Disziplinen beitragen sollte, wäre dies grundsätzlich zu begrüßen und das Gesagte keineswegs als Kritikpunkt aufzufassen.
Der Umfang des Bandes wird vermutlich verhindern, dass ihn viele Leser von Buchdeckel zu Buchdeckel durchlesen werden. Wer aber in den nächsten Jahren zur Hamburger Kulturgeschichte arbeiten wird, wird schwerlich um dieses Buch herumkommen. Aber auch denjenigen, die sich unabhängig von der Stadt Hamburg mit Kulturgeschichte auseinandersetzen, sei die Lektüre empfohlen. Von der genannten Kritik im Einzelnen abgesehen liegt eine gelungene Publikation vor, deren Beiträge in weit überwiegender Zahl mit Gewinn gelesen werden können.
Dennis Hormuth