Azar Gat: Nations. The Long History and Deep Roots of Political Ethnicity and Nationalism, Cambridge: Cambridge University Press 2013, VII + 441 S., ISBN 978-1-107-40002-3, GBP 18,99
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Azar Gat, Professor für Political Science an der Universität Tel Aviv, hatte sich zunächst unter Militärhistorikern einen Namen gemacht als Experte für militärisches Denken seit dem 18. Jahrhundert. Mit seinem monumentalen, in der deutschen Geschichtswissenschaft wenig rezipierten Werk "War in Human Civilization" (Oxford 2006) hat er sich dann einer anthropologisch ausgerichteten Weltgeschichte zugewandt, die er in seinem neuesten Werk "Nations" thematisch erweitert fortführt. Es ist gegen eine Hauptlinie in der heutigen Nationalismusforschung geschrieben, nämlich gegen alle, die Nation und Nationalismus der Moderne zuordnen oder als menschliche Imaginationen und Konstruktionen entschlüsseln wollen. Diesen Widerspruch haben zwar auch andere vor ihm geäußert, doch von ihnen hebt er sich in der weltgeschichtlichen Weite seines Blicks und in der Radikalität seines anthropologischen Ansatzes ab. Viel Feind viel Ehr, und - so mag er hoffen - viel Aufmerksamkeit. Dieses Werk hat sie verdient.
Zunächst sei festgehalten, wer bei der Lektüre nicht auf seine Kosten kommen wird: Wer wissen will, wie die Idee der Volkssouveränität, wie Demokratisierung und politische Massenpartizipation die Phänomene Nation, Nationalismus, Nationalstaat verändert haben. Dass der moderne Nationalismus sich vom vormodernen unterscheidet, bestreitet Gat nicht, doch es interessiert ihn nicht sonderlich. Sein Blick ist auf die langen Linien fixiert und auf die "innate human preference for one's kin-culture group" (42), auf die er Nation und Ethnie zurückführt. Sie sind immer in Bewegung - Gat argumentiert nicht essentialistisch oder 'primordial' - und dennoch "the most durable of cultural forms" (141), da in der Natur des Menschen entwicklungsbiologisch angelegt. Die Stärke dieses anthropologischen Ansatzes liegt darin, nach nicht-intentionalen Verhaltensdispositionen von langer Dauer zu fragen, nicht aber historische Veränderungen und Umbrüche zu analysieren. So interessiert Gat an den Meiji-Reformen in erster Linie, dass das Selbstbild des modernen Japan, "centering on Japanese kin-cultural uniqueness and the divinity of the emperor" (106), nicht von der Gesellschaft angenommen worden wäre, wenn die Vorstellung von einer japanischen Nation nicht schon im "premodern Japan" längst verankert gewesen wäre. Diese Gegenüberstellung von Vormoderne und Moderne gehört ebenfalls zu dem anthropologischen Ansatz, den Gat wählt. Und ebenso die Überzeugung, dass die Vormoderne als geschichtsmächtiger Prägestock, in dem "kin-culture formations" als "human propensities" (141) aufbewahrt sind, dominant bleibt. So ausgerüstet benötigt er nur eine halbe Seite, um zu erklären, worin sich die finnische Geschichte von der anderer skandinavischer Gesellschaften und Staaten im Kern unterschied und warum Finnland kein "Swedish Wales" (159) geworden ist. Geschichte als Interaktion von Akteuren mit bestimmten Zielen und Interessen in einem umgrenzten Handlungsraum mit spezifischen Handlungsmöglichkeiten erschließt sich aus Gats Anthropologie nicht. Worauf richtet sie den Blick aus? Zweierlei sei hervorgehoben:
1. Es geht darum, politisch wirksame Konstanten in der menschlichen Geschichte zu erkennen. "Although highly diverse and multifarious, human cultural forms have been built as a range of variations around a clearly recognizable deep core of innate, evolution-shaped human propensities." (41) Sie als variantenreiche "gene-culture interactions" (41) zu studieren, ist das Ziel seiner Weltgeschichte. Sie führt von den Anfängen menschlichen Lebens bis zur Europäischen Union. In ihr diagnostiziert er keine Auflösung nationaler Bindungen, sondern eine Erosion staatlicher Souveränität der Mitglieder. Solche Einschätzungen beruhen nicht auf detaillierten Analysen von Handlungsfeldern im zeitlichen Verlauf, sondern es werden einzelne Beobachtungen in ein zeitenübergreifendes anthropologisches Modell eingefügt, das die EU ebenso wie quellenarme Stammesgesellschaften auf einige Kernfragen reduziert, um "the interconnections between kinship, culture, and identity formation, and the interface between human propensities and historical development" (43) zu studieren.
2. Der zeitlich und räumlich umfassende Blick auf die Geschichte der Menschheit ermöglicht es, gewohnte Perspektiven und daran geknüpfte Bewertungen aufzubrechen. Wer nach den Anfängen von Nation, Nationalismus und Nationalstaat fragt, darf nicht, so Gat, auf die europäische Geschichte schauen. Da Staaten in "an ethnic space which shared kin-culture attributes" (83) entstehen, gehöre der Nationalstaat bereits in die Frühphase der Entwicklungsgeschichte des Staates. Von einem Nationalstaat müsse überall gesprochen werden, wo eine Ethnie oder ein Staatsvolk (Gat benutzt dieses deutsche Wort) mit einem Staat annähernd konvergieren. Auch multinationale Imperien beruhen auf einem ethnonationalen Machtkern. Die Annahme, Europa sei in der Formierung von Nationen und Nationalstaaten vorangegangen, sei "fundamentally untrue" (132). Europa erscheint bei Gat als ein nationalpolitischer Spätentwickler (vor allem im Vergleich zu Asien), dessen Nationalstaaten jedoch auf Grund der geologischen Beschaffenheit Europas besser gegen "imperial takeovers" (133) abgesichert waren und infolge ihrer generellen Rückständigkeit stärker feudal fragmentiert blieben, was die Kohäsion der Staaten und Nationen geschwächt habe. Dass ausgerechnet diesem Rückstandsgebiet als erstem unter den Weltzivilisationen der "break into modernity" (133) gelang, lässt sich mit Gats anthropologischem Ansatz offensichtlich nicht erklären. Europas globale Überlegenheit als Modernisierungsraum habe die Bedeutung der vormodernen Nationalstaaten in der Welt überschattet und die Wissenschaftler dazu verleitet, diese Spätphase als eine Norm für die Entstehung und die Funktionsweisen von Nationen und Nationalstaaten miss zu verstehen. "Both Europe's extreme levels of feudal fragmentation during the Middle Ages and its pioneering breakthrough into modernity and highly adavanced national states were unique." (131) Dieser Sonderfall sei zur Regel verzeichnet worden.
Man muss einer solchen Umwertung fest etablierter wissenschaftlicher Deutungen nicht in allem zustimmen, und kann dennoch anerkennen, wie außerordentlich anregend die Provokationen sind, die in der globalen Weite von Gats anthropologischem Ansatz angelegt sind. Um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, die Entwicklung des Königreichs der Zulus präsentiert er als typisch für die Staats- und Nationsbildung im 19. Jahrhundert: Gewaltprozesse im Innern und von außen auf der Grundlage eines "common ethnic substratum" als Ausgangspunkt und Grundlage der "standard state-building techniques" (65) wie Konzentration militärischer, rechtlicher und religiöser Autorität an der Machtspitze und die langsame nationalstaatliche Homogenisierung auf zahlreichen kulturellen Ebenen.
Staat und Nation seien, so resümiert Gat, nicht mehr als "a particular and transient reality", aber sie existieren schon so lange, dass sie die empirisch beste Grundlage böten, künftige Entwicklungen abzuschätzen. Denn "kin-culture bonds of identity, affinity, and solidarity - which lie at the root of tribalism, ethnicity, and nationalism - will remain a potent social force." Wie stark sie zurzeit sind, analysiert Alexander Yakobson im Kapitel 7 anhand von Verfassungen und von anderen normativen Texten der Gegenwart.
Zum Abschluss zwei Beobachtungen: Die globale Weite dieses Buches ist sprachlich einstimmig. In der Welt ist nur, was in englischer Sprache über sie erzählt wurde und wird. Das allerdings ist viel. Obwohl der anthropologische Ansatz auf lange Entwicklungslinien zielt und die Bedeutung der Religion für ethnonationale Formierungen immer wieder hervorgehoben wird, werden die jüdische Nation und ihre Staatsbildungen nur gelegentlich kurz erwähnt und nie in einen größeren Zusammenhang gestellt.
Dieter Langewiesche