Oliver Grau / Thomas Veigl (eds.): Imagery in the 21st century, Cambridge, Mass.: MIT Press 2011, VI + 410 S., ISBN 978-0-262-01572-1, GBP 27,95
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Die Bildwissenschaft konstituierte sich einst mit der Feststellung, wir seien wie niemals zuvor in der Geschichte mit Bildern umgeben und es müsse dieser - vor allem elektronischen - Bilderflut ein methodisches Instrumentarium entgegengesetzt werden. [1] Seit dem ist das Internet in alle Lebensbereiche eingedrungen und das digitale Bild hat die Bilderflut zu einem wahren Tsunami anschwellen lassen. Doch eine Bildwissenschaft 2.0 ist bisher nur in Anfängen zu erkennen. [2] Umso interessanter ist es, dass der vorliegende Band sich dem breiten Spektrum der Bildwelten des 21. Jahrhunderts annehmen möchte.
Heute sind wir nicht mehr nur Rezipienten, sondern oft Produzenten von Bildern, wir kommunizieren mit Bildern. Das digitale Bild scheint gerade im Netz ortlos, immateriell und ungreifbar zu sei. Mehr denn je benötigen wir auf die neuen Bilderfragen Antworten, Methoden und Herangehensweisen, wie diese Bilder zu verstehen sind, wie mit ihnen umgegangen werden kann. Der Band scheint dieses neue Feld zu umreißen und die heutigen Herausforderungen der Bildwissenschaft zu fassen.
Oliver Grau und Thomas Veigl von der Donau Universität Krems haben daher in diesem Band der MIT Press infolge einer Konferenz eine Reihe von Autoren versammelt, deren Texte zum Teil schon in anderen Publikationen erschienen sind, aber in diesem neuen Zusammenhang sich sinnvoll ergänzen. Mit der Zusammenstellung ist Eines bereits erreicht: Die viel zu selten praktizierte Vernetzung deutsch- und englischsprachiger Bildwissenschaft und Visual Studies zeigt hier vorzeigbare Ergebnisse.
Grau macht zudem bereits im Vorwort deutlich, dass er eine systematische und interdisziplinäre Reflexion über neue Formen von Bildern und Visualisierungen anstrebt (1). Er verspricht ein breites Spektrum an Themen von der Rolle der Bilder in den Naturwissenschaften, der Kunst und Populärkultur, zu Fragen der Bildkompetenz, der Wissensvisualisierung, der musealen Präsentation und der Digital Humanities.
Tatsächlich eröffnet Sean Cubitt die Reihe mit einem Artikel, der sich mit der Allgegenwärtigkeit von Bildschirmen von Handys bis öffentliche Werbedisplays auseinandersetzt. Dabei diskutiert er nicht abstrakt deren Bilder, sondern konkret ihre Präsenz als materielle Objekte und folgt ihrer Mediengeschichte. Cubitt versucht dabei, aus einer medienhistorischen Perspektive heraus den Blick auf das Display zu weiten: Die heute übliche Pixelmatrix ist demnach nicht die einzig denkbare Darstellungsweise digitaler Daten. So verweist Cubitt auf Ivan Sutherlands Sketchpad, dessen zentrales Element ein Vektorbildschirm darstellte. Ob sich durch eine andere Hardware die Rezeption visualisierte Daten grundsätzlich ändert, bleibt bei ihm jedoch offen.
Martin Schulz geht es daher um die Inhalte von Bildern. "All images are staged and manipulated" (37), konstatiert er gleich zu Beginn. Der Karlsruher Kunsthistoriker bezieht sich dabei nicht nur auf heutige Bildphänomene, sondern setzt diese folgerichtig in einen bildhistorischen Kontext, der ihm als Grundlage einer historischen Einordnung und zum Verständnis gegenwärtiger Bildphänomene dient. Schulz macht deutlich, dass es eine Bildgeschichte gibt, die sich über die Bildmedien hinweg verfolgen lässt. Dies zeigt er an der Gestaltung von Porträts. Dabei dient ihm der Vorspann des Films "Fahrenheit 9/11" von Michael Moore als Beispiel, in dem die bekannten Minister der Bush-Regierung beim Styling vor TV-Aufnahmen zu sehen sind. Die Gestaltung von Politikergesichtern funktioniert, so Schulz, in den elektronischen Medien nicht grundsätzlich anders als in der in der Geschichte des Herrscherporträts. So macht er eine lange Tradition der Bilder aus, die seines Erachtens eine Bildanthropologie notwendig macht. Gleichzeitig vertritt er die Meinung, dass diese neuen, nicht-analogen Bilder eine völlig neue Dimension darstellen aufgrund des "enormous change of spatiotemporal organization as well as the boundless multiplication, manipulation, circulation, and availability of images" (52). Die Validität dieser Differentia specifica des digitalen Bildes bleibt jedoch zu diskutieren. Ebenso die Frage, was tatsächlich neu und was traditionell an den Medien und ihren Bildern in der Gegenwart ist.
Darauf geht Stefan Heidenreich genauer ein: "Digitalization brings some fundamental changes to pictures.", schreibt er. "But the mere fact that images are now encoded as numbers does not explain how the visual culture changed" (101). Am Beispiel des Films und Videoplattformen wie YouTube macht er deutlich, dass das Neue weniger in der Manipulierbarkeit des digitalen Bildes liegt, dass zudem die Produktionsbedingungen mit dem Medienwechsel vielmehr recht unverändert geblieben seien. Die grundsätzlichen Veränderungen, so argumentiert er, seien an der Oberfläche (gemeint ist wohl das Bildphänomen) kaum zu erkennen. Diese macht er vielmehr in der Möglichkeit des verlustlosen Kopierens und damit der Vernetzung aus. Die Verknappung liege damit nicht mehr in dem Zugang zu Bilddaten, sondern, so vermutet er, in der körperlichen Abwesenheit der Bilder. Die Immaterialität sei demnach das Neue am digitalen Bild. Doch die Frage stellt sich, welches Verhältnis dann das Bild zu seinem Medium hat. Wie ändert sich das Bild in der wechselnden Mediengeschichte? Müssen wir mit der Digitalisierung unseren Bildbegriff ein weiteres Mal überdenkenden?
Diese Fragen können selbst in dem auf 410-seitigen Band mit Beiträgen 23 namhafter Autoren nicht abschließend beantwortet werden. Das Buch zeigt jedoch, wenn die Bildwissenschaft nicht in ihren nunmehr fast 20 Jahre alten Fragestellungen verharren will, sondern sich der Gegenwart und der digitalen Revolution der Bildmedien öffnen will und wenn die historischen Geisteswissenschaften es nicht nur für ihren Auftrag halten, retrospektiv zu arbeiten, sondern auch zum Verständnis der Gegenwart beitragen wollen, dann muss sich den zahlreichen Ausformungen der Bildwelten der Gegenwart dezidiert interdisziplinär und international vernetzt genähert werden. Dafür ist der vorliegende Band eine gute Grundlage.
Anmerkungen:
[1] Grundlegend dafür weiterhin Gottfried Boehm: Die Bilderfrage, in: Was ist ein Bild?, hg. von Gottfried Boehm, München 1994, S. 325-343 und W. J. T. Mitchell: Bildtheorie. Frankfurt am Main 2008.
[2] In Ansätzen, jedoch nicht systematisch und ausschließlich auf das Bild bezogen, findet sich dies beispielsweise in: Jens Schröter / Alexander Böhnke (Hgg.): Analog/Digital - Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004 sowie in dem im Juli 2013 bei Bloomsbury Academic erscheinenden Buch von Lev Manovich mit dem Titel "Software Takes Command".
Harald Klinke