Francesca Weil: Verhandelte Demokratisierung. Die Runden Tische der Bezirke 1989/90 in der DDR (= Berichte und Studien; Nr. 60), Göttingen: V&R unipress 2011, 250 S., ISBN 978-3-89971-881-2, EUR 20,90
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Francesca Weil, seit Jahren eine der produktivsten Historikerinnen am Hannah-Arendt-Institut in Dresden, weist am Beginn ihrer Studie darauf hin, dass die kulturgeschichtliche Tradition "Runder Tische" bis zur König-Artus-Sage zurückreiche. Um die 1989/90 in der DDR etablierten "Runde Tische" ranken sich, so Weil, immer noch "verklärende Legenden" (7). Dem will ihre Studie entgegensteuern.
Nach der Vorstellung des Forschungsstandes und der komplizierten und zuweilen diffusen Quellenlage geht Francesca Weil knapp, aber hinreichend auf vergleichbare Institutionen in anderen kommunistischen Staaten ein. Dabei wird deutlich, dass jedes Land eigene Wege einschlug und selbst die allgemeine Vorbildwirkung des ersten Runden Tisches in Polen eher begrifflich und metaphorisch denn praktisch zu verstehen ist. Anschließend charakterisiert die Autorin den "Zentralen Runden Tisch" in der DDR, der in der Literatur eine intensive Beachtung erfuhr. Seine Sitzungen sind von Dezember 1989 bis März 1990 überwiegend live im Fernsehen und im Radio übertragen, die Sitzungsprotokolle sind vor Jahren herausgegeben worden und mehrere wissenschaftliche Studien haben sich analytisch mit ihm befasst, ohne dabei erschöpfend zu sein.
Wie viele "Runde Tische" es in der DDR 1989/90 gab, kann wohl niemand mit Gewissheit sagen. Es existierten hunderte, wenn nicht tausende. Neben dem "Zentralen Runden Tisch" und den "Runden Tischen" in den Bezirken und Kreisen kamen zahllose weitere regionale, lokale, institutionell gebundene sowie speziell thematische hinzu. Francesca Weil konzentriert sich auf die 15 "Bezirkstische". Damit schlägt sie eine Schneise in die bisherige Unübersichtlichkeit und trägt nicht unwesentliche Mosaiksteine zu unserem Bild über die hektischen und heterogenen Abläufe und Ereignisse 1989/90 bei.
Im Zentrum stehen dabei Fragen nach den jeweiligen Initiatoren, der Zusammensetzung, dem Selbstverständnis und der Arbeitsweise, den inhaltlichen Schwerpunkten sowie den praktischen Ergebnissen. Die Autorin stellt immer wieder zutreffend heraus, dass das Legitimationsproblem der "Runde Tische" stets virulent blieb und praktisch nicht gelöst werden konnte. Überraschend ist, wie unterschiedlich die einzelnen "Runden Tische" arbeiteten, wie sie überhaupt zustande kamen und welche ganz verschiedenen Probleme sie zu bewältigen hatten. Auch dass die SED/PDS in einigen Bezirken zuweilen weitaus geschickter agierte als zum Beispiel am "Zentralen Runden Tisch" war so nicht bekannt. Im Gegensatz zu diesem kam naturgemäß der Länderbildung an den Bezirkstischen eine besondere Rolle zu. Daneben beschäftigten sie sich unter anderem mit Bildungs- und Umweltfragen und Versorgungsproblemen. Die Hauptaufgabe lag aber ähnlich wie beim "Zentralen Runden Tisch" in der konkreten Vorbereitung der Wahlen, was historisch ihre Berechtigung auch in der Rückschau zu legitimieren scheint. Zwar ließ dann der beginnende Wahlkampf die bisherige überwiegend auf Konsenssuche basierende Arbeit der Tische zurücktreten, so dass eine neue Atmosphäre entstand. Aber diese "Konsenssuche" stand - historisch gesehen - einer inneren Demokratisierung der DDR ohnehin eher im Weg, so sehr diese Suche - ebenfalls historisch gesehen - damals auch verständlich gewesen sein mag.
Fällt das historische Urteil im Hinblick auf die wichtigste Aufgabe - der Wahlvorbereitung - eindeutig positiv aus, so lässt sich dies anhand der anderen zwei Schwerpunkte nicht so deutlich sagen. Denn die Kontrolle der bisherigen Machtinstitutionen blieb mehr ein Wunsch der oppositionellen Akteure als dass diese Kontrolle effektiv und flächendeckend hätte erfolgen können. Vielfach haben die staatlichen und parteilichen Sachverwalter mitgespielt, aber nur, um irgendwie zu retten, was zu retten war - und sei es das eigene Überleben, wie sich besonders gut am Beispiel der beiden Blockparteien CDU und LDPD zeigt. Beide Parteien schwenkten ab Dezember 1989/Januar 1990 endgültig auf den Kurs ihrer nunmehrigen "Mutterparteien" im Westen um und gerierten sich als eifrige Verfechter von Freiheit, sozialer Marktwirtschaft, Demokratie und deutscher Einheit, als hätten sie weder je andere Ziele gehabt noch als wären sie je Teil des SED-Macht- und Herrschaftsapparates gewesen. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Reiner Deutschmann aus Kamenz (Sachsen) kann denn so auch heute auf seiner Homepage schreiben, er sei seit 1987 "Parteimitglied". Der in der DDR ausgerechnet als Geschichts- und Geographielehrer - zwei extrem ideologisch gefärbte Schulfächer - tätige Politiker, erwähnt nicht, dass er vor 1990 natürlich eben nicht Mitglied der FDP, sondern einer Blockpartei war. Dass er auch noch nach den gefälschten Kommunalwahlen im Mai 1989 Stadtverordneter und Stadtrat wurde, sei als Petitesse hinzugefügt.
Das ist deshalb erwähnenswert und alles andere als untypisch, weil ein solcher Umgang mit der eigenen Biographie eben in jenen Umbruchszeiten 1989/90 einsetzte, die politische Kultur Deutschlands beeinflusste und letztlich dazu beitrug, die SED-Diktatur viele Jahre auf einige wenige Repressionselemente zu reduzieren statt das gesamte System in den Blick zu nehmen. Das wiederum hängt mit der lange vorherrschenden Fokussierung auf das Ministerium für Staatssicherheit zusammen. Dafür gab es viele Gründe. Auch die "Runden Tische" trugen zu dieser einseitigen Fixierung bei. Die Stasi wurde zu einem Entlastungsmoment all jener stilisiert, die selbst in die SED-Herrschafts- und Machtinstitutionen involviert waren. Denn wer das Label "Stasi" - ob nun als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter - nicht trug, schien angeblich weitaus weniger verantwortlich für die SED-Diktatur zu sein. Francesca Weils Verdienst ist es, die unterschiedlichen Auflösungsvarianten der Staatssicherheit in den Bezirken, so wie sie an den Bezirkstischen debattiert und zum Teil verhandelt worden sind, in den Blick genommen und kritisch analysiert zu haben.
Das Buch verdient aufgrund seiner empirischen Dichte, seiner guten Lesbarkeit, seiner ausgewogenen Urteile und nicht zuletzt, weil die Autorin es strikt unterlässt, zu mutmaßen oder - wie es in den letzten Jahren in Mode gekommen ist - Verschwörungstheorien zu entwerfen, breite Aufmerksamkeit. Denn auch Weils These, dass diese "Runden Tische" entscheidend zur bislang wenig beachteten und gewürdigten "eigenständigen DDR-Demokratisierung" beitrugen (230), ist plausibel. Dass die DDR "bereits ein halbes Jahr" vor der Wiedervereinigung "ein freiheitlich-demokratischer Staat" (ebd.) war, trifft allerdings so nicht zu. Damals herrschte eher eine lustige Anarchie; einen funktionierenden Rechtsstaat gab es weder am 3. April noch am 2. Oktober 1990 in der DDR. Aber diese These von Francesca Weil sollte man angesichts ihres eindrucksvollen und sonst überzeugenden Buches nicht so ernst nehmen. Hier scheint mehr die Zeitzeugin denn die Historikerin zu sprechen.
Ilko-Sascha Kowalczuk