Lorenz Pfeiffer / Henry Wahlig: Juden im Sport während des Nationalsozialismus. Ein historisches Handbuch für Niedersachsen und Bremen, Göttingen: Wallstein 2012, 411 S., 70 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1083-4, EUR 34,90
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Diethelm Blecking / Lorenz Peiffer (Hgg.): Sportler im "Jahrhundert der Lager". Profiteure, Widerständler und Opfer, Göttingen: Die Werkstatt 2012, 352 S., ISBN 978-3-89533-872-4, EUR 28,00
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Die Geschichte des jüdischen Sports und ihrer Akteure bzw. Akteurinnen ist in den vergangenen Jahren verstärkt erforscht worden. Neben der Pionierstudie von Hajo Bernett über den jüdischen Sport im nationalsozialistischen Deutschland von 1978 [1] sei vor allem auf eine aktuelle Geschichte der jüdischen Sportbewegung [2], einen voluminösen Sammelband über Juden im Fußball [3] und die Erinnerung an "vergessene" jüdische Leichtathletinnen [4] hingewiesen.
Die neueren Forschungen und Publikationen sind nicht unwesentlich dem geschäftsführenden Herausgeber der Zeitschrift SportZeiten und Professor am Institut für Sportwissenschaft der Leibniz Universität Hannover, Lorenz Peiffer zu verdanken. In dieser Zeitschrift sind seit vielen Jahren immer wieder Beiträge zur Geschichte des jüdischen Sports erschienen. Peiffer ist an beiden hier anzuzeigenden Neuerscheinungen beteiligt.
Mit seinem Hannoveraner Kollegen Henry Wahlig hat er die regionale Geschichte des jüdischen Sports am Beispiel der heutigen Bundesländer Niedersachsen und Bremen in den Blick genommen. Entstanden ist ein historisches Handbuch mit vielen bisher unbekannten Informationen zu über dreißig Orten und zehn Kreisen der aufgearbeiteten nordwestdeutschen Region. In dreijährigen Recherchen konnte die Geschichte von "insgesamt 27 bislang unbekannten jüdischen Makkabi- und Schild-Vereinen recherchiert und nachgezeichnet [...]" (7) werden. Ergänzend sind Lebensgeschichten von ca. 200 jüdischen Sportlerinnen und Sportlern recherchiert worden, von denen fünfzehn biografische Skizzen in den zweiten Teil des Bandes Aufnahme gefunden haben.
Die wesentliche Quellenbasis der innovativen Studie bildet die zeitgenössische jüdische Presse und die darin enthaltene Sportberichterstattung. Diese entwickelte sich nach 1933 "zu einem der wichtigsten Themen" (11). Von den darüber hinaus ausgewerteten Archivalien sind vor allem die polizeilichen Überwachungsberichte jüdischer Sportveranstaltungen zu nennen. Die Auswertung von Festschriften und Chroniken von Turn- und Sportvereinen hat sich als wenig ergiebig erwiesen, da sich die Vereine "über die historische Entwicklung [...] in den Jahren 1933 bis 1945 bis heute immer noch ausschweigen." (16) Es hat aber einige überraschende Funde in der Wiener Library in London und im Archiv des Makkabi-Weltverbandes in Ramat Gan (Israel) gegeben. Ergänzend konnten Interviews mit einigen der wenigen noch lebenden Zeitzeugen herangezogen werden.
Die Ortsartikel des Handbuchs sind alphabetisch von "A" wie Aurich bis "W" wie Wittmund gegliedert. Sie informieren unterschiedlich ausführlich über die Entwicklungen vor dem Nationalsozialismus, die "Arisierung" des jüdischen Sports ab 1933, die Entwicklung zwischen 1933 und 1938 und vereinzelt auch darüber hinaus. Abgerundet werden die Artikel mit Informationen über jüdische Sportlerinnen und Sportler und ihre Lebenswege: Emigration, Deportation, Ermordung. Vereinzelt sind die Artikel bebildert.
In der umfassenden thematischen Einführung stellen Peiffer/Wahlig vorab einige der Ergebnisse ihrer Forschungen vor. Eine Wurzel des jüdischen Sports in Niedersachsen haben sie für die Mitte des 19. Jahrhunderts gefunden: Salomon Mendelssohn richtete in seiner Heimatstadt Jever den ersten Turnplatz in Nordwestdeutschland ein, war 1852 und 1854 an der Gründung der ersten beiden Turnvereine Oldenburgs beteiligt und kann in Anlehnung an sein Vorbild Friedrich Ludwig Jahn als "Turnvater" des Großherzogtums Oldenburg bezeichnet werden. (18) Ähnliches Engagement hat es auch in einigen weiteren Orten gegeben. Es ist allerdings noch genauer zu untersuchen, inwiefern sie dem jüdischen Sport im engeren Sinne zugerechnet werden können oder ob sie eher als Belege für die Integration von Juden in die regionale Gesellschaft anzusehen sind. Zuzustimmen ist sicherlich der Interpretation, "dass die Integration jüdischer Mitglieder in örtliche Turnvereine Mitte / Ende des 19. Jahrhunderts in aller Regel problemlos vonstatten ging." (18)
Ein Gegenbeispiel ist die Entwicklung in der Stadt Hameln: In dem von Bernhard Gelderblom stammenden ergänzend in das Handbuch aufgenommenen Ortsartikel wird hervorgehoben: "Der brutale rassistische Antisemitismus der NSDAP, der sich in Hameln seit 1930 Geltung verschaffte, stieß in Hameln aus wenig Gegenwehr." (182) Die judenfeindlichen Aktivitäten hatten zur Folge, dass die Sportgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten offenbar das Jahr 1935 nicht überstanden hat. Die Auswanderung insbesondere von jugendlichen Sportlern und Sportlerinnen setzte bereits früh ein, so dass sich 1935 die Zahl der jüdischen Bevölkerung gegenüber 1933 mit nur noch 86 Personen "nahezu halbiert" hat. Zurückgeblieben sind 1939 "fast nur noch alte, weibliche und weitgehend mittellose jüdische Menschen in der Stadt." (85)
Einige weitere interessante örtliche Besonderheiten seien erwähnt: In Aurich gehörte der Jüdische Jugendverein Corona dem Arbeiter-Turn- und Sportbund an und nicht einem allgemeinen Verband. Ob der Grund für diese Besonderheit - die auch für andere Orte zutrifft - in einer bewussten Distanz zu den bürgerlichen Sportvereinen oder in der politischen Ausrichtung des Arbeitersports gelegen hat, ist den Quellen nicht zu entnehmen gewesen. Im Fall von Aurich könnte es einen pragmatischen Grund gehabt haben: Erhalten gebliebene Spielberichte zeigen, dass es regelmäßig Handballspiele gegen Mannschaften des Arbeitersports gegeben hat. Über solche Spiele hatte das Israelitische Familienblatt regelmäßig berichtet. Hier wie in anderen Fällen würden sich weitere Recherchen lohnen.
Die Gründung und Etablierung jüdischer Sportvereine erfolgte häufig als jüdische Selbsthilfe, wie zum Beispiel im Fall des zionistisch orientierten Sportvereins Bar Kochba Braunschweig. Ende der 1920er Jahre "fungierten die größeren und etablierten Nachbarvereine Bar Kochba Hannover und Bar Kochba Hamburg als 'Patenvereine' für den kleinen Nachbarn Braunschweig. (87) Die Namensgebung der Vereine erfolgte in Erinnerung an Simon Bar Kochba, den Heerführer des letzten großen jüdischen Aufstandes gegen die römische Besetzung Palästinas (132-135). Im Fall nicht nur von Braunschweig gibt es weitere Besonderheiten: feststellbar waren der "extrem hohe Frauenanteil im Funktionärsbereich" (88) und eine häufige Mitgliedschaft von Familienangehörigen - sowohl bei den Aktiven als auch den Funktionären.
Neben den zionistisch ausgerichteten Turn- und Sportvereinen ist - wie in Bremen - "die Förderung der sportlichen Ausbildung der jüdischen Jugendlichen durch die Ortsgruppe des RjF [Reichsbund jüdischer Frontsoldaten] sehr offensiv betrieben worden." (107) Der dritte Verband jüdisch-neutraler Turn- und Sport-Vereine (VINTUS) scheint in der Untersuchungsregion keine große Bedeutung gehabt zu haben.
Das gut lesbare und informative Handbuch verdeutlicht, welche große Bedeutung Juden und Jüdinnen im regionalen (allgemeinen) Sport, in den jüdischen Gemeinden und den örtlichen Gesellschaften hatten. Viele (allgemeine) Vereine profitierten sowohl vom sportlichen Engagement der jüdischen Mitgliedschaft wie von ihren finanziellen Zuwendungen. Dies endete nach den Novemberpogromen 1938. Wer nicht mehr aus Deutschland fliehen konnte, wurde fast immer ein Opfer des Holocaust.
Die Geschichte von Juden und Jüdinnen im Allgemeinen wie im jüdischen Sport am Beispiel von Niedersachsen und Bremen im Besonderen in Erinnerung gebracht zu haben, ist das Verdienst von Lorenz Peiffer und Henry Wahlig. Nun sind Hochschulen und Sportverbände in den anderen Regionen Deutschlands, in denen es vor 1938 jüdisches Sportleben gegeben hat, gefordert: Die eigentlichen Zentren des jüdischen Sports haben sich in Südwestdeutschland, Berlin und im Ruhrgebiet gefunden.
Biografische Studien zu Sportlerinnen und Sportler im Kontext von politischer Verfolgung im 20. Jahrhundert sind das Thema der von Lorenz Peiffer mit Diethelm Blecking herausgegebenen Bilanz des "Jahrhunderts der Lager" (Zygmunt Bauman). Eine abgewandelte begriffliche Klammer wäre das "Jahrhundert der Verwirklichung totalitärer Utopien" - so die Überschrift des einleitenden Beitrags von Leonid Luks. "Der Leser findet in diesem Buch verschiedene 'Textsorten' von traditionellen historiographischen Versuchen bis zu essayistischen und journalistischen Annäherungen." (9 f.) Der Band basiert auf einer Tagung, die 2011 im Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin stattgefunden hat.
In den 47 Beiträgen haben 40 Historiker und Journalisten politische und rassistische Opfer des Nationalsozialismus portraitiert sowie vereinzelt Verfolgte des "Stalinismus" in der Sowjetunion - ein Zugeständnis an das Totalitarismustheorem?
Der Band ist in fünf Abschnitte gegliedert: Im ersten Teil werden zwölf Karrieren von Sportfunktionären und aktiven Sportlern angesprochen: Karl Ritter von Halt begründete seinen sportlichen Ruhm mit "herausragenden Leistungen im Zehnkampf" (28), wird 1929 Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, bekannte sich früh zum Nationalsozialismus und ist 1973 als Ehrenvorsitzender des Nationalen Olympischen Komitees in München verstorben. Der Präsident des Deutschen Fußballbundes Felix Linnemann wirkte als Kriminalpolizist am Holocaust mit. Auch der an Kriegsverbrechen beteiligte Generalfeldmarschall Walter von Reichenau und IOC-Mitglied gehört in die Kategorie der NS-Sportfunktionäre.
Der Boxer Max Schmeling gilt als politisches Symbol des nationalsozialistischen Deutschland, während der Fußballer Otto Fritz "Tull" Harder Mitglied der Nationalmannschaft und Kommandant eines KZ-Außenlagers war. Das Fußballidol Fritz Szepan von Schalke 04 profitierte von der "Arisierung" jüdischen Besitzes. Ein NS-Bezug liegt auch vor bei dem Turnphilologen Carl Krümmel, dem NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter Konrad Henlein und dem "Jahrhundertläufer" (97) Rudolf Harbig sowie dem vielseitigen Athleten und Olympiasieger Gerhard Stöck, der nach 1945 Netzwerke aus der NS-Zeit nutzte. Die NS-Thematik kontrastierend werden als sportliche Repräsentanten der DDR der Funktionär Manfred Ewald und der Rennfahrer Gustav Adolf Schur portraitiert.
Die folgenden sechs biografischen Skizzen sind der Rubrik 'Flucht' zugeordnet: Nach der "langen Reise des Fußballdoktors" und Austria-Wien-Präsidenten Emanuel Schwarz (124 ff.) wird den Lebenswegen der Fußballtrainer Emanuel Schaffer und Béla Guttmann nachgegangen. Es geht weiterhin um den Herausgeber der Fußballzeitschrift "Kicker" Walter Bensemann und die von den Olympischen Spielen 1936 ausgeschlossene Margarete Bergmann. Angesichts der jüdischen Lebensgeschichten wirken die Geschichten von aus der DDR in die Bundesrepublik geflüchteten "Sportverräter[n]" deplaziert.
Im Teil 3 werden in sieben Texten Sportler vorgestellt, die sich am Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland beteiligten: Es geht u.a. um den kommunistischen Ringer Werner Seelenbinder, der an den Olympischen Spielen 1936 teilnahm. Bisher unbekannt ist der Fall von Berliner Polizeisportlerinnen, die 1935 gegen eine Handballmannschaft des Jüdischen Turn- und Sportclubs Berlin 05 spielten. Diese "Handballdamen" (184) sind Opfer einer Hetzkampagne der NS-Presse geworden, blieben aber die "moralischen Siegerinnen dieser Begegnung" (187) - die Unentschieden endete. Ergänzend wird auf die drei jüdischen Schwimmerinnen aus Österreich Judith Deutsch, Lucie Goldner und Ruth Langer hingewiesen, die aus politischen Gründen ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen 1936 absagten. Zu den weiteren Themen gehört die Geschichte des Sportoffiziers der Wehrmacht Wilm Hosenfeld und sein Rettungswiderstand in Warschau.
Das umfangsreichste vierte Kapitel enthält Biografien von 15 Opfern, darunter bekannte Beispiele wie das des ermordeten deutschen Fußballnationalspielers und Juden Julius Hirsch, des "Zigeuners" und Boxers Johann Trollmann und der von Olympiasiegern zu "Reichsfeinden" gemachten Cousins Alfred und Gustav Felix Flatow. Der Turner Fritz Rosenfelder und die Tennisspielerin Nelly Neppach - beide hatten jüdische Wurzeln - haben Suizid begangen. Nicht nur angesichts der Verschleppung einiger Sportler in Konzentrationslager stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang mit der Lebensgeschichte des aus der DDR geflüchteten Fußballspielers Lutz Eigendorf - der durch einen mysteriösen Autounfall starb - wie auch mit der Darstellung zu den Fußballbrüdern Starostin, die "Berias Opfer im GULAG" (280) wurden.
In der letzten Rubrik kommen sieben Überlebensgeschichten zur Sprache. Hier wird zunächst auf den mehrfach behandelten jüdischen Präsidenten des FC Bayern München Kurt Landauer eingegangen. Die Geschichten über den Grenzgänger und schlesischen Fußballer Ernst Willimowski, den "Nationalspieler, der Theresienstadt überlebte" (Paul Mahrer), Salomo Arouch - ein jüdischer "Boxer, der in Auschwitz siegte" oder den jüdischen Präsidenten des AS Rom und Bankier Renato Sacerdoti sind bisher nahezu unbekannt geblieben.
Neben einigen bereits bekannten Lebensgeschichten von Sportlern - nur vereinzelt Sportlerinnen - enthält der Sammelband viele bislang unbekannte und interessante biografische Beispiele. In beiden Publikationen werden Termini "Jude", "jüdisch" usw. in weitem Sinne benutzt. Ein Grund ist sicherlich die spärliche Überlieferung, die offen lässt, wie die Akteure und Akteurinnen zum Judentum standen. Auffallend ist weiterhin, dass offenbar Männer und hier vor allem Fußball spielende relativ häufig das Interesse der - fast ausschließlich männlichen - Autoren gefunden haben.
Beide Bände sind reichhaltig illustriert. Sie zeigen die langsamen Fortschritte der Erforschung der Zeitgeschichte des Sports, aber verweisen zugleich auf noch zahlreiche vorhandene Desiderate: In der regionalen Forschung gibt es noch viele Leerstellen und auch die biografischen Beiträge verdeutlichen, dass noch viele Anstrengungen zu unternehmen sind.
Anmerkungen:
[1] Hajo Bernett: Der jüdische Sport im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1938, Schorndorf 1978.
[2] Eric Friedler: Makkabi chai - Makkabi lebt. Die jüdische Sportbewegung in Deutschland 1898-1998, Wien / München 1998.
[3] Dietrich Schulze-Marmeling (Hg.): Davidstern und Lederball. Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball, Göttingen 2003.
[4] Berno Bahro / Jutta Braun / Hans-Joachim Teichler (Hgg.): Vergessene Rekorde. Jüdische Leichtathletinnen vor und nach 1933 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1084), Bonn 2010.
Kurt Schilde