Rezension über:

Dorothee Hansen / Henrike Holsing: Vom Klassizismus zum Kubismus. Bestandskatalog der französischen Malerei in der Kunsthalle Bremen, München: Hirmer 2011, 448 S., 190 farb. Abb., ISBN 978-3-7774-2911-3, EUR 98,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Annette Dorgerloh
Kunstgeschichtliches Seminar, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Annette Dorgerloh: Rezension von: Dorothee Hansen / Henrike Holsing: Vom Klassizismus zum Kubismus. Bestandskatalog der französischen Malerei in der Kunsthalle Bremen, München: Hirmer 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 9 [15.09.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/09/21229.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Dorothee Hansen / Henrike Holsing: Vom Klassizismus zum Kubismus

Textgröße: A A A

Die Kunsthalle Bremen ist bekannt durch ihre Franzosen, konstatierte ihr Direktor Wulf Herzogenrath im Vorwort des 2011 publizierten Bestandskataloges französischer Malerei. Der Begriff ist hier, wie üblich, weit gefasst; er bezieht auch diejenigen Künstler ein, die nicht in Frankreich geboren wurden, dort aber ihre Hauptschaffensphasen hatten. Der chronologisch nach dem Entstehungsjahr der Bilder aufgebaute Katalog beginnt mit Jean-Louis Laneuvilles Bildnis des Bertrand Barère de Vieuzac (um 1793/94) und endet mit Juan Gris' Violine vor dem offenen Fenster von 1926, umfasst also alle Stilphasen zwischen Klassizismus und Kubismus. Zusammen mit der deutschen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts bildet die französische Malerei der beginnenden Moderne den Nukleus der Bremer Galerie. Er beruht wesentlich auf der geschickten und konsequenten Erwerbungspolitik ihrer Direktoren, insbesondere Gustav Pauli (1899-1914) und Günter Busch (1945-84).

Wie Dorothee Hansen in ihrem einführenden Aufsatz zur Entstehung der Sammlung luzide darlegt, war es 1899, als Gustav Pauli die Leitung der Galerie übernahm, kaum noch möglich, hochkarätige Werke der alten Meister zu bekommen. So konzentrierte er sich auf den systematischen Ankauf von Werken der aktuellen künstlerischen Strömungen in Frankreich und Deutschland, besonders der französischen Impressionisten. Anders als in Berlin, wo Kaiser Wilhelm II. persönlich massiv in die Ankaufspläne der Nationalgalerie eingriff und die Erwerbung moderner Kunst zumindest partiell zu verhindern wusste, hatten Pauli und seine Nachfolger in der bürgerschaftlich geprägten Hansestadt weitgehend freie Hand. Es gelang ihnen, Mäzene und Stifter für den Aufbau ihrer Galerie, die aus dem 1823 gegründeten Kunstverein hervorgegangen war, zu gewinnen. Die große Zahl von Geschenken und Vermächtnissen belegt die erfolgreiche öffentlichkeitswirksame Arbeit ihrer Direktoren, die gleichwohl wiederholt mit dem vehement vorgetragenen Vorwurf einer einseitigen Bevorzugung französischer Kunst und einer "undeutschen Gesinnung" zu kämpfen hatten.

Paulis Nachfolger Emil Waldmann (1914-45), der vor seiner Zeit am Dresdner Kupferstichkabinett bereits als Volontär an der Kunsthalle tätig gewesen war, knüpfte mit seinen Publikationen zur Kunst des französischen Realismus und Impressionismus direkt an Pauli an. Dessen umfangreiche Erwerbungspolitik jedoch konnte er unter den schwierigen Bedingungen seiner Amtszeit nicht weiterführen. Trotzdem gelang ihm 1918 mit dem spektakulären Ankauf von Paul Cézannes Dorf hinter den Bäumen die Schließung einer Lücke im Spektrum der Sammlung, die bisher kein Bild dieses Künstlers besaß. Dasselbe gilt auch für den als Maler lange Zeit unterschätzten Honoré Daumier, dessen kleines Gemälde Hagar und Ismael 1926 angekauft werden konnte. [1]

Wie die tabellarische Darstellung der Neuzugänge französischer Malerei für die Bremer Kunsthalle auf der Doppelseite 16/17 des Kataloges auf den ersten Blick erkennen lässt, wurde der zahlenmäßig größte Bestand erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erworben. In seiner vierzigjährigen Amtszeit gelang es ihrem Direktor Günter Busch nicht nur, die empfindlichen Kriegsverluste zu mildern, sondern auch neue Schwerpunkte im Bereich der französischen Romantik, der Schule von Barbizon, den Nabis und den Fauves zu setzen. Schließlich konnte mit seiner Erwerbung charakteristischer Werke von Juan Gris und anderen auch der Kubismus angemessen präsentiert werden. Unter Buschs Nachfolgern Siegfried Salzmann (1985-93) und Wulf Herzogenrath (1994-2011) erfolgten keine gezielten Ankäufe, dennoch konnte der Bestand um fünfzehn neue Bilder erweitert werden.

Der vorliegende, opulent ausgestattete Katalog erfasst und kommentiert nicht nur die französischen Gemälde, Ölskizzen und Pastelle der Galerie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, sondern bietet weitaus mehr: eine Kompilation der Forschung der letzten Jahrzehnte im Handbuchformat. Gerade deshalb ist es bedauerlich, dass ein kleiner, aber wichtiger Bereich ausgegrenzt wurde. Durch die Entscheidung, den Schlusspunkt mit den Kubisten zu setzen, bleibt André Masson als Surrealist ebenso unberücksichtigt wie Chagall oder Picasso, dessen Bremer Werke aus späteren Phasen stammen.

Wie nahezu alle Publikationen des Hirmer-Verlages besitzt auch dieser sorgfältig gearbeitete Bestandskatalog eine überzeugende Abbildungsqualität - für die Reproduktion von Bildern mit besonders malerischer Komponente wie hier grundsätzlich ein Muss. Auch die werkmonographischen Texte, denen stets biographische Basisinformationen über die Künstlerinnen und Künstler vorangestellt sind, vermögen ebenso durch ihre kenntnisreiche Argumentation wie durch ihre auch interessierten Laien verständliche Sprache zu überzeugen. Angaben über die Provenienz, den jeweiligen Technischen Befund und den Zustand des Bildes, Erläuterungen zur Rahmung eingeschlossen, ergänzen die kunsthistorischen Betrachtungen in vorbildlicher Weise. Hervorzuheben ist, dass bestehende Lücken in den Provenienzangaben in den einzelnen Einträgen jeweils kenntlich gemacht wurden. Im Anhang findet sich als originelle Zugabe eine Doppelseite Die Orte der Bilder, eine Frankreich-Karte, auf der die Motive von insgesamt 36 Bildern - Porträts und Landschaftsdarstellungen - markiert bzw. lokalisiert sind. Eine synchronoptische Auflistung vereint die wichtigsten Daten und Ereignisse aus Kunst und Politik in Frankreich von 1789 bis zum Zweiten Weltkrieg. Angefügt sind illustrierte Verzeichnisse der Gemälde, die seit 1937 als "entartet" beschlagnahmt wurden sowie der seit dem Zweiten Weltkrieg vermissten Werke.

Alles in allem vermag der Band die französische Malerei des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in einer Breite und Tiefe zu erschließen, die in den avantgardegeschichtlich orientierten Überblicksdarstellungen kaum zu finden ist. Er ermöglicht die Begegnung mit heute weitgehend vergessenen Künstlern und Künstlerinnen wie z.B. Angèle Delasalle, die zu ihrer Zeit hochgeschätzt waren, und erweitert das Wissen über die Stars der Kunstszene um viele neue Facetten.


Anmerkung:

[1] Vgl. Daumier ist ungeheuer! Gemälde, Handzeichnungen, Grafik, Bronzen von Honoré Daumier, Ausst.kat., hg. von Claude Keisch, Berlin 2013.

Annette Dorgerloh