Eric W. Robinson: Democracy beyond Athens. Popular Government in the Greek Classical Age, Cambridge: Cambridge University Press 2011, X + 275 S., ISBN 978-0-521-84331-7, GBP 60,00
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Spricht man von "Demokratie in der Antike", meint man gemeinhin die "athenische Demokratie", mitunter manchmal die "attische(n) Demokratie(n)". Die In-eins-Setzung der Verfassungsentwicklung sowie -struktur einer Stadt und der Geschichte bzw. Entwicklung einer Staats- und Verfassungsform in Forschung und breiterer Öffentlichkeit hat ihren Ursprung in der Quellenlage: Im Grunde kann nur für Athen ein aus literarischen wie den anderen Quellengattungen (besonders Inschriften, archäologische Hinterlassenschaften, Münzen) belastbares Netz aus institutionellen wie ideologischen Vorstellungen einer "Demokratie" gewebt werden.
Dass es über Athen hinaus auch noch nicht wenige Zeugnisse für demokratische Strukturen und Verfahrensweisen in anderen Poleis gibt, fällt zumeist unter den Tisch. Das Diktum Jochen Bleickens in seinem Standardwerk "Die athenische Demokratie": "Eine Geschichte der Demokratien außerhalb Athens gibt es nicht, und sie wird auf Grund der desolaten Quellenlage auch wohl kaum jemals geschrieben werden können" [1], brachte insofern die Forschungslage auf einen, wenn auch fatalen Punkt.
Jetzt ist Eric W. Robinson, Associate Professor am Department of History der Indiana University, angetreten, nach seinem Erstlingswerk "The First Democracies. Early Popular Government outside Athens" [2] unter zeitlich wie räumlich breiteren Fokus dieser verengten und verengenden Sicht auf Athen ein Bild der anderen Demokratien im Griechenland der klassischen Zeit (480-323 v.Chr.) entgegenzusetzen.
Hierzu durchmustert Robinson nach kurzer Einleitung (1-5) in den ersten drei Kapiteln insgesamt 54 Poleis bzw. Regionalverbünde (Achaia und Thessalien) aus dem griechischen Kernland (6-66), Nordwestgriechenland und der westlichen Magna Graecia mit Kyrene (67-136) sowie dem östlichen Griechenland (namentlich der Poleis in Ägäis, Ionien und Schwarzmeergebiet) (137-181). Er rekurriert hier auf das "Inventory of Archaic and Classical Poleis" [3] als Ausgangsbasis, wobei er sich nicht sklavisch an deren Klassifizierung und Definitionskriterien für eine "Demokratie" hält, was ihm von dieser Seite aus auch einige (zum Teil berechtigte) Kritik eingebracht hat. [4] Ausgiebig wird dabei für die jeweiligen Städte die teilweise sehr disparate Quellenlage für demokratische Strukturen und Entscheidungsprozesse diskutiert und mit aktueller Forschungsliteratur untermauert.
In den beiden abschließenden Kapiteln erfolgt dann eine Gesamtschau auf die Quellensammlung, einerseits unter dem Aspekt der Kriterien und Gründe für eine Verbreitung der demokratischen Verfassungen in klassischer Zeit (182-216), andererseits im kurzen Anriss der Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der zusammengestellten demokratischen Systeme (217-247).
Der methodische Aufbau von den einzelnen Fallanalysen hin zu den daraus zu ziehenden Schlüssen zeigt jedoch durchaus Schwächen: Wenn so Robinson mit Recht in Kapitel vier die communis opinio der Schlüsselposition Athens bei der Verbreitung der "Demokratie" in Frage stellt und an dessen Stelle sowohl lokale Faktoren als auch die "peer polity interaction" John Mas [5] unter Erweiterung der Perspektive auf die weitreisenden Sophisten setzt, dann spiegelt sich dies bei der Behandlung der Fallbeispiele in stets wiederkehrender Ablehnung des athenischen Einflusses wider, was den ansonsten großen Lesegenuss etwas hemmt.
Ebenso stört, dass Robinson erst im fünften Kapitel überhaupt eine Definition von "Demokratie" wagt, die sich naturgemäß fast ausschließlich auf Aristoteles in dessen Politika stützt (222f.): Dazu gehört z.B. die Kontrolle des demos über die "staatlichen" Strukturen, die Machtfülle der Volksversammlung, Losung bzw. Wahl von Beamten, allgemeine Wählbarkeit ohne größere Zensusreglementierungen, kurze Amtszeiten der Magistrate, Kontrolle bzw. Rechenschaftspflicht der Beamten u.v.m. Diese Definitionsliste zu Beginn des Werkes vor sich zu haben, erleichterte dem Leser durchaus die Diskussion der Fallbeispiele. Darüber hinaus ist die Gefahr von Zirkelschlüssen gegeben, wenn etwa die wesentlichen Zeugnisse zur Einstufung der Fallbeispiele als demokratische Poleis aus dem aristotelischem Schrifttum selbst stammen. Anregend ist hingegen seine Widerlegung des oft aus dem athenischen Beispiel postulierten Zusammenhangs von Demokratie und Seeherrschaft (230-237); auch die moderne These von der Friedenswilligkeit demokratischer Staaten untereinander (237-240) beleuchtet Robinson für die griechische Antike zu Recht kritisch. Dass insgesamt und überhaupt nur ein verschwindender Teil der antiken Poleis als demokratisch einzustufen ist und die antike Demokratie nur wegen des überragenden Beispiels Athens so prominent hervortritt, sollte einem bei solchen Fragestellungen ebenso stets bewusst bleiben.
Alles in allem legt Robinson ein äußerst anregendes Werk vor, das den engen Blick auf die athenische Demokratie weitet und mit seiner Fallbeispielsammlung großen Raum für weitere Diskussionen fernab ausgetretener Pfade bietet.
Anmerkungen:
[1] Jochen Bleicken: Die athenische Demokratie, Paderborn et al. 41995 (UTB; 1330), 677.
[2] Eric W. Robinson: The First Democracies. Early Popular Government outside Athens, Stuttgart 1997.
[3] Mogens Herman Hansen / Thomas Heine Nielsen (eds.): An Inventory of Archaic and Classical Poleis. An Investigation Conducted by The Copenhagen Polis Centre for the Danish National Research Foundation, Oxford 2004.
[4] Vgl. dazu die substantielle Rezension des vorliegenden Werkes von Mogens Herman Hansen im Bryn Mawr Classical Review 2013.01.17 (http://bmcr.brynmawr.edu/2013/2013-01-17.html).
[5] John Ma: Peer Polity Interaction in the Hellenistic Age, Past and Present 180 (2003), 9-39, ausgehend von: Colin Renfrew / John F. Cherry (eds.): Peer Polity Interaction and Socio-Political Change, Cambridge 1986.
Sven Günther