Bernd Steinbock: Social Memory in Athenian Public Discourse. Uses and Meanings of the Past, Ann Arbor: University of Michigan Press 2013, XII + 411 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-0-472-11832-8, USD 85,00
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In der vorliegenden Monographie verbindet Peter Steinbock das Forschungsfeld der antiken Erinnerungskulturen mit der Frage nach den Mechanismen der Entscheidungsfindung in der athenischen Demokratie. Die Aktualität beider Bereiche in der althistorischen Forschung zeigt bereits die vom Autor vorgelegte Aufzählung der für seine Untersuchung relevanten Studien, die erst nach der Fertigstellung des Manuskripts publiziert wurden und so nur am Rande in die Argumentation einfließen konnten. [1] Dabei steht das Werk in der Tradition jüngerer Studien, welche die hohe Bedeutung anderer Erinnerungsmedien als der griechischen Geschichtsschreibung, hier der attischen Reden, für die Etablierung einer gemeinsamen Erinnerung betonen. [2] Konkret fragt Steinbock, wie sich das Soziale Gedächtnis im klassischen Athen ausgestaltete, wie die Redner auf dieses zurückgriffen und welche Auswirkung dies wiederum auf die Entscheidung der Zuhörer hatte. Am Beispiel der Rolle, die Theben in der athenischen Erinnerung spielte, vollzieht er nach, warum und wann bestimmte Motive aufgegriffen und wie bzw. von wem sie argumentativ in Stellung gebracht wurden.
Zunächst entwickelt Steinbock sein Konzept des Sozialen Gedächtnisses. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass es kommunikativ gestaltet wird und zugleich eine hohe Relevanz für den Einzelnen und die erinnernde Gemeinschaft besitzt. Daran anschließend stellt er die verschiedenen Praktiken und Träger vor, die für die Formierung des Sozialen Gedächtnisses in Athen bedeutsam waren. Steinbock präsentiert dabei ein Nebeneinander verschiedener Bezugsgruppen und Medien, die im Zusammenspiel eine vielschichtige athenische Erinnerungslandschaft schufen. Um ihr Publikum zu überzeugen, mussten die attischen Redner Erzählungen aus diesem Komplex wählen und konnten keineswegs, wie häufig angenommen, beliebig modifizierte Varianten vortragen. Denn im Gegensatz zu früheren Studien betrachtet Steinbock die Rekurse auf Vergangenes in Debatten nicht als rein äußerliche Argumente zur Überdeckung realpolitischer Überlegungen, sondern sieht in ihnen relevante Faktoren für den Entscheidungsfindungsprozess.
Nach diesen Vorüberlegungen wendet sich Steinbock der exemplarischen Untersuchung der Rolle Thebens zu. Dabei untersucht er vier Episoden: Den Medismos der Thebaner in den Jahren 480-479 v.Chr., die Bestattung der gefallenen Argiver im Kontext des Zuges der Sieben gegen Theben, die Unterstützung der Athenischen Demokraten in der Zeit der Dreißig Tyrannen sowie die Forderung, Athen nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg zu zerstören. Er verfolgt dabei die Ausgestaltung der jeweiligen Erzählungen in klassischer Zeit nach und setzt ihre argumentative Verwendung mit den historischen bzw. politischen Rahmenbedingungen in Beziehung.
So diskreditiert die Erinnerung an den Medismos im 5. Jahrhundert die Thebaner und wertet die Athener, welche sich als Vorkämpfer der griechischen Freiheit präsentieren, als deren Gegenbilder auf. Diese Darstellung wird im 4. Jahrhundert im Kontext des Konfliktes zwischen Theben und Plataiai aktualisiert und durch die makedonisch-thebanische Allianz von 342 im Sozialen Gedächtnis bewahrt. Auch die hohe Bedeutung, welche Berichte über die Durchsetzung der Bestattung der gefallenen Argiver nach deren Zug gegen Theben in Athen besaßen, interpretiert Steinbock im Kontext der athenischen Hegemonialansprüche nach den Perserkriegen: So präsentieren sie die Polis Athen im Sinne der Ausrichtung der Gefallenenreden - deren Bestandteile von Steinbock in Anlehnung an Sara Forsdyke etwas problematisch als "master narrative" (20) bezeichnet werden - als Beschützerin unterdrückter Griechen und damit als rechtmäßige Führungsmacht. Die Thebaner hingegen beweisen schon hier ihre Hybris sowie ihre Ignoranz gegenüber gemeinsamen griechischen Werten.
Demgegenüber wird die positive Erinnerung an die thebanische Unterstützung der athenischen Demokraten in der Zeit der Dreißig zunächst insbesondere in Theben gepflegt, durch diplomatische Kontakte aber auch nach Athen getragen. Gerade im Kontext von Bündnisschlüssen oder Kooperationen kann diese Episode erinnert und so trotz der vielen Konflikte zwischen beiden Poleis bis in die 320er Jahre tradiert werden. Die Forderung nach der Zerstörung Athens steht für Steinbock in der Tradition von (etwa den medisierenden Poleis angedrohten) rituellen Auslöschungen nach dem Vorbild Krissas im ersten Heiligen Krieg. Das Erlebnis traumatisiert die Athener, so dass die Episode fest im Sozialen Gedächtnis verankert wird. Während die Erinnerung an die Beteiligung anderer aber in späterer Zeit verblasst, bleiben die Standpunkte von Thebanern und Spartanern zur Zerstörung Athens im Diskurs präsent. Alexander knüpft hieran an und präsentiert sich durch die Auslöschung Thebens - zumindest gegenüber den Athenern - als Verfechter der griechischen Sache.
Auch wenn nicht alle Ergebnisse neu sind, schließt das Werk eine Lücke in der althistorischen Forschung, indem es umfassend das athenisch-thebanische Verhältnis und dessen Auswirkung auf das Soziale Gedächtnis in Athen beleuchtet. Manche Überlegungen möchte man zwar mit dem Autor diskutieren, beispielsweise die Frage, ob die Bedeutung der Vergangenheitsbezüge in der Entscheidungsfindung durch die gewählte Herangehensweise messbar gemacht werden kann. Ebenso fehlen im Literaturverzeichnis einige einschlägige Titel, etwa zur Erinnerung in Theben. Doch schafft es Steinbock überzeugend, die verschiedenen Bilder Thebens in politischen Aushandlungsprozessen des klassischen Athens zu verorten. Dabei gelingt es ihm, auch widerstreitende oder inkonsistente Varianten einer Erzählung den historischen Rahmenbedingungen zuzuweisen und scheinbare Widersprüche aufzulösen. [3] Die Analyse bleibt jedoch nicht auf die Ebene der Reden beschränkt, sondern diskutiert fruchtbar auch historische Realitäten hinter den Erzählungen. Umfassende Indices runden das positive Gesamtbild ab. Insgesamt leistet Steinbocks Werk so einen wichtigen Beitrag zur Diskussion der Bedeutung von Vergangenheit in Athen und ist aufgrund seiner überzeugenden Einzelanalysen allen an der Thematik Interessierten zu empfehlen.
Anmerkungen:
[1] Siehe stellvertretend Karl-Joachim Hölkeskamp / Elke Stein-Hölkeskamp (Hgg.): Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, München 2010; Peter Hunt: War, Peace, and Alliance in Demosthenes' Athens, Cambridge 2010; Julia L. Shear: Polis and Revolution. Responding to Oligarchy in Classical Athens, Cambridge 2011.
[2] Im Anschluss an Rosalind Thomas: Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge 1989; ähnlich unlängst Lin Foxhall / Hans-Joachim Gehrke / Nino Luraghi (eds.): Intentional History. Spinning Time in Ancient Greece, Stuttgart 2010 und Jonas Grethlein: The Greeks and Their Past. Poetry, Oratory and History in the Fifth Century BCE, Cambridge 2010.
[3] Besonders gelungen ist etwa die Analyse von Isokr. Panathen. 172f. in Kapitel 3 oder Dein. 1,25 in Kapitel 4.
Maria Osmers