Dariusz Kołodziejczyk: The Crimean Khanate and Poland-Lithuania. International Diplomacy on the European Periphery (15th-18th Century). A Study of Peace Treaties Followed by Annotated Documents (= The Ottoman Empire and its Heritage. Politics, Society and Economy; Vol. 47), Leiden / Boston: Brill 2011, XXXV + 1097 S., 43 s/w-Abb., 2 Kt., ISBN 978-90-04-19190-7, EUR 244,00
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Sabine Jagodzinski: Die Türkenkriege im Spiegel der polnisch-litauischen Adelskultur. Kommemoration und Repräsentation bei den Żółkiewski, Sobieski und Radziwiłł, Ostfildern: Thorbecke 2013
Ungefähr 70 % der von mir befragten zufällig getroffenen Besucher der Staatsbibliothek Berlin sowie der Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin antworteten auf die Frage "Wer waren die Tataren?" mit einem einfachen "Weiß ich nicht". [1] Wenn man bedenkt, dass wir es angesichts des Befragungsortes vermutlich mit gebildeten Bewohnern der deutschen Hauptstadt zu tun haben, stellt dieses Ergebnis ein miserables Bild dar. Gleichwohl ist es nicht wirklich verwunderlich, denn auch in der deutschen Forschungslandschaft bilden die Tataren eine terra incognita.
Eine ähnliche Umfrage wurde 1948 in der Wojewodschaft Rzeszów durchgeführt. Sie zeigte eine dort bis heute nachwirkende traumatische Erinnerung an die tatarischen Plünderungen und Verwüstungen der Frühen Neuzeit (XIV). Ungefähr zwei Millionen Einwohner Polen-Litauens wurden von den Krimtataren zwischen 1500 und 1700 zu Sklaven gemacht. Bestimmt deswegen definierten in der Sprache der hohen Diplomatie sogar so erfahrene Politiker wie der polnische Großhetman Adam Mikołaj Sieniawski (1666-1726) Osmanen und Tataren als "nation barbare". [2] Trotzdem sind so genannte Sippenverwandtschaften (Polnisch: pobratymstwo) der polnischen Magnaten und der Anführer der einflussreichen tatarischen Adelsfamilien aktenkundig, die nicht selten den Austausch von Neuigkeiten und Gefangenen ermöglichten und erleichterten.
Ein ausgezeichnetes Beispiel für eine jahrelange Freundschaft, die auf guten Kenntnissen und persönlichen Beziehungen beruhte, stellte der Berater von zahlreichen Khanen Dedeş Ağa dar (238, 457-458), der sich sogar in polnischer Tracht porträtieren ließ. In tatarischen Diensten lassen sich auch zahlreiche erfahrene italienische Persönlichkeiten wie Augustino de Garibaldis oder Gianantonio Spinola finden (458). Nicht selten wurden tatarische Urkunden auf italienischem Papier verfasst und italienische Architekten errichteten tatarische Residenzen auf der Krim im Auftrag des Khans (XXVIII).
Trotzdessen wurden und werden Tataren viel eher mit "nation barbare" als mit anderen, positiv aufgeladenen Begriffen assoziiert. Die Erinnerung an die tatarischen Beutezüge dominiert nicht nur die polnische, sondern auch die russische und westeuropäische Forschung bis heute erheblich. Dariusz Kołodziejczyk, der zu den weltweit bekanntesten Osmanisten gehört, versucht mit seiner hier anzuzeigenden Studie die Tataren in die europäische Erinnerung und die Geschichte der Frühen Neuzeit zu reintegrieren. Das einfache Bild eines Räuber-Beute-Verhältnisses differenziert er durch den Blick auf die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Krimkhanat, Polen-Litauen, Moskau und darüber hinaus der Goldenen Horde. Das tut er anhand von zahlreichen polnischen, russischen, osmanischen sowie tatarischen Quellen.
Die Arbeit kann man als eine klassische diplomatiegeschichtliche Edition von Quellen mit einem erheblich erweiterten Teil ihrer Interpretation betrachten. [3] Sie liefert die Ergebnisse jahrelanger Forschungen, die mit großem Engagement und tiefgehenden Kenntnissen durchgeführt wurden. Die Studie untergliedert sich in zwei große Abschnitte: eine historisch-chronologische Einführung sowie eine klassische Untersuchung der diplomatischen Praxis auf der Ebene der Kontakte zwischen dem Krimkhanat, Polen-Litauen und Moskau. Anschließend findet der Leser eine Sammlung von 71 Urkunden aus der Zeitspanne zwischen 1461 und 1742, die die polnisch-tatarischen Beziehungen veranschaulichen, sowie einen Index und ein Literaturverzeichnis.
Nach der Lektüre des ersten Teils wird deutlich, dass die Krimtataren lange die Rolle eines Züngleins an der Waage spielten: je nachdem, ob gerade Polen-Litauen oder das Moskauer Reich das Gleichgewicht der Mächte in Osteuropa veränderten, beschlossen die aufmerksamen Khane Frieden entweder mit dem ersten oder mit dem zweiten zu schließen. Eine solche Allianz fungierte auf der Basis des gemeinsamen Feindes gut. Nicht nur für einfache tatarische Reiter, sondern auch für die Mitglieder der vier tatarischen Sippen (Şirin, Barın, Agın und Kıpçak) und sogar der Giray-Familie selbst bildeten Raubzüge und die daraus entstehende Beute eine kaum unterschätzbare Einnahmequelle. [4] Andererseits bedeutete die zu deutliche Stärkung eines der nördlichen Rivalen eine Existenzgefahr für das Khanat. Nach langer Kooperation zwischen den Tataren unter Islam III. Giray (1644-1654) und den Kosaken, die zur Schwächung Polen-Litauens und weitgehend zum Aufstieg Moskaus zur dominanten Macht in Osteuropa beitrug, kam es zu einer Umkehrung der Freundschaften und dem so genannten langen polnisch-tatarischen Bündnis (1654-1666). In den 1670er und 1680er Jahren verloren die Krimtataren diplomatisch gesehen langsam an Bedeutung, um mit dem Frieden von Karlowitz 1699 sogar offiziell auf die traditionsreiche Geschenkvergabe zu verzichten. Letztere fand, obwohl formell um das Jahr 1700 verworfen, auch im 18. Jahrhundert ihre Fortsetzung, was quellenkundlich belegbar ist. [5]
Die von Kołodziejczyk geführte Narration klammert das in der Forschung vernachlässigte 18. Jahrhundert grundsätzlich aus - seine erste Hälfte wird auf einigen wenigen Seiten abgehandelt -, während der Fokus auf dem 17. und vor allem 16. Jahrhundert liegt. Dies verwundert, da die Quellenlage eine vertiefte Narration ermöglichen würde. Ein besonderes Interesse des Verfassers lag auf dem Kanzleiwesen der Krimtataren, das von der Forschung bisher wenig Interesse bekam. Die chronologische Einführung sowie die Diplomatikstudie nehmen fast die Hälfte des Buches ein.
Als besonders wertvoll erweist sich die Edition der in zahlreichen Sprachen verfassten Quellen (Latein, Italienisch, Polnisch, Ruthenisch, Osmanisch und Tatarisch in verschiedenen Varianten). Mit Kommentaren versehen und mit Ausnahme der lateinischen und italienischen Urkunden ins Englische übersetzt stellt sie der Forschung ein Corpus exzellenter Materialien zur Verfügung, die vorher nur schwer erreichbar waren und kaum verwendet wurden.
Trotz aller Bedenken im Kleinen steht der Forschung mit der eher positivistisch verstandenen Edition von Kołodziejczyk ein kaum zu unterschätzendes Werk zur Verfügung. Zusammen mit seinem ersten englischsprachigen Buch aus dem Jahre 2000 [6] bildet Kołodziejczyks Arbeit eine stabile Grundlage für zukünftige Forscher der Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und seinen europäischen Nachbarn während der Frühen Neuzeit.
Anmerkungen:
[1] Eigene Umfrage, durchgeführt mit einer nicht repräsentativen Gruppe von 30 Personen.
[2] Brief von Adam Mikołaj Sieniawski an Georg Friedrich von Lölhöffel, Brzeżany, 20 III 1714, GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 9, Nr 27 NN fasc. 1, Bl. 71.
[3] Ähnlich konzipiert ist die Arbeit von Sándor Papp: Die Verleihungs-, Bekräftigungs- und Vertragsurkunden der Osmanen für Ungarn und Siebenbürgen. Eine quellenkritische Untersuchung (= Schriften der Balkankommission / Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Bd. 42), Wien 2003.
[4] Zu diesem Thema mit besonderer Berücksichtigung der Sippe (Şirin, siehe Mária Ivanics: Die Sirin. Abstammung und Aufstieg einer Sippe in der Steppe, in: The Crimean Khanate between East and West (15th - 18th Century) (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 78), hg. v. Denise Klein, Wiesbaden 2012, 27-44. Siehe auch die kaum bekannte und ausgezeichnete Arbeit über die Kriegszerstörungen in Polen-Litauen, die gerade zur Veröffentlichung vorbereitet wird: Andrzej Gliwa: Zniszczenia wojenne i ich skutki na terenie ziemi przemyskiej w XVII wieku, Bd. 1-2, unveröffentlichte Doktorarbeit, Jagiellonen-Universität Krakau 2009. Gliwa thematisiert kosakische, schwedische und vor allem tatarische Übergriffe auf die südöstlichen Wojewodschaften Polen-Litauens und korrigiert erheblich ältere Arbeiten von Maurycy Horn.
[5] Der von Dariusz Kołodziejczyk erwähnte Gesandte des Hetmans Wojciech Szornel (196 - 197) konnte erst den Khan Kaplan Giray aufsuchen, nachdem die von ihm mitgebrachten Geschenke (Polnisch: upominki) vorgelegt wurden, siehe seinen Bericht in: Czartoryski-Bibliothek Krakau, ms. 493 (Res Turcica), Nummer 2, Bl. 13- 22. Zur gleichen Zeit besuchte Kaplan Giray auch der königliche Gesandte Pierre Lamar (Józef Andrzej Gierowski: Piotr Lamar, in: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 16, 421-422). Polnische Archivbestände sind reich an Listen, welche Angehörige des khanischen Hofes, bzw. der Familie beschenkt werden sollten. Dies gilt auch für das 18. Jahrhundert, beispielsweise: Ibidem, Nummer 36, Bl. 189 (Liste der Geschenke, die von August dem Starken an den Khan geschickt wurden, ca. 1713); Hauptarchiv der Alten Akten, Warschau, Archiwum Koronne Warszawskie, Dział Turecki (Türkische Sektion), karton (Karton) 79, teczka (Mappe) 551, numer (Nummer) 924 (eine Liste aus dem Jahre ca. 1712). Besonders beliebt auf der Krim waren Tafelgeschirr aus Silber und Porzellan sowie besonders teure goldene Tischuhren westeuropäischer Provenienz.
[6] Dariusz Kołodziejczyk: Ottoman - Polish diplomatic relations, 15th-18th century: an annotated edition of 'ahdnames and other documents (= The Ottoman Empire and its heritage, Bd. 18), Leiden 2000 .
Mariusz Kaczka