Hubert Fehr / Irmtraut Heitmeier (Hgg.): Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, St. Ottilien: EOS Verlag 2012, 663 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8306-7548-8, EUR 49,00
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Die vermeintlichen 'Männer aus Baia' beschäftigen die Forschung noch immer: Das Rätsel der möglichen Herkunft der baio-varii ist ebenso wie die Einzelheiten der bayerischen Ethnogenese bis heute ungelöst. Ältere Annahmen, wonach die Bayern aus baia/Böhmen eingewandert seien und sich in einem von den Römern nahezu menschenleer zurückgelassenem Raum niedergelassen hätten (die sogenannte 'Landnahme'-Theorie), sind seit längerem überholt, hat die neuere Forschung doch an zahlreichen Beispielen nachgewiesen, dass mit dem Untergang des Weströmischen Reiches am Ende des 5. Jahrhunderts lediglich ein (Teil-)Rückzug der militärischen Einheiten erfolgte, aber große Teile der romanischen Bevölkerung in ihren bisherigen Siedlungsgebieten blieben und dort mit neu hinzukommenden Gruppierungen verschmolzen und neue Völker bildeten. Zudem nimmt unser Wissen über die Entwicklungen im Raum des entstehenden Baiern insbesondere durch neue archäologische Funde beständig zu. Damit verbunden ist zugleich eine immer weiter verfeinerte Methode ihrer Auswertung. Die Grundprobleme bleiben: Archäologische Funde und schriftliche Zeugnisse bedürfen der sorgsamen, Zirkelschlüsse vermeidenden Auswertung und Deutung. Geblieben, bisweilen verschärft hat sich infolge der zunehmenden Spezialisierung der einzelnen Disziplinen die Schwierigkeit, zu einem echten Dialog zwischen den einzelnen Fächern zu gelangen.
Der vorliegende Band, der auf eine im Jahre 2010 in Benediktbeuern abgehaltene Tagung zurückgeht, hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, rund fünfundzwanzig Jahre nach der bayerisch-salzburgischen Landesausstellung "Die Bajuwaren. Von Severin bis Tassilo 488-788" (1988) vor dem Hintergrund neuer Funde, aber auch einer weiter fortgeschrittenen Fach- und Methodendiskussion die Anfänge Bayerns erneut in den Blick zu nehmen und kritisch zu würdigen. Damit wurde freilich nicht die Absicht verbunden, an die Stelle der herrschenden Meinung, wonach ein 'Traditionskern' aus Böhmen eingewandert und die 'Ethnogenese' der Baiern ausgelöst habe, zu ersetzen, wie Hubert Fehr, Irmtraut Heitmeier: Ein Vierteljahrhundert später (13-20), in ihrer konzisen, Einleitung und Zusammenfassung in einem bildenden Einführung betonen. Ziel sei es vielmehr gewesen, "die gegenwärtige Diskussion zu bilanzieren und unterschiedliche Perspektiven aufzuzeigen" (14). Es sind besonders zwei Aspekte, die seitens der neueren Forschung stark betont wurden und zu einer deutlichen Veränderung der Perspektiven geführt haben - die Infragestellung der Kategorie des Ethnos als Deutungsmuster und die Hinwendung bzw. stärkere Berücksichtigung des Raumes als Bezugspunkt sowohl der archäologischen Funde als auch der Toponyme sowie der schriftlichen Quellen.
Inhaltlich lassen sich die Beiträge zwei großen Gruppen zuordnen: Aufsätze, die das frühe Baiern zum Gegenstand haben und Untersuchungen, die aus dem Vergleich anderer, zum Teil benachbarter Kontexte Rückschlüsse auf Entwicklungen im frühen Baiern zu ziehen versuchen.
Den Auftakt der Einzeluntersuchungen bildet Michaela Konrad, Ungleiche Nachbarn. Die Provinzen Raetien und Noricum in der römischen Kaiserzeit (21-71), die das Augenmerk auf den unterschiedlichen Romanisierungsstand zwischen dem stark von römischen Einflüssen geprägten und mit städtischen Zentren versehene Noricum und das stärker militärisch dominierte, weniger romanisierte Raetien lenkt, was seitens der Forschung bislang zu wenig berücksichtigt wurde. Roland Steinacher, Zur Identitätsbildung frühmittelalterlicher Gemeinschaften. Überblick über den historischen Forschungsstand (73-123), betont gegenüber der älteren Vorstellung eines über eine sprachlich-kulturelle Einheit verfügenden Volkes die Vielfältigkeit frühgeschichtlicher Identitäten. Jochen Haberstroh, Der Fall Friedenhain-Přeš'ovice - ein Beitrag zur Ethnogenese der Baiovaren? (125-147), widerspricht der mittlerweile bereits weitgehend widerlegten Auffassung, wonach sich anhand des archäologischen Fundmaterials ein aus Friedenhain-Přeš'ovice eingewanderter bairischer Traditionskern ausmachen lasse. Ludwig Rübekeil, Der Name Baiovarii und seine typologische Nachbarschaft (149-162), weist durch Vergleich mit anderen - varii-Namen die verbreitete Annahme zurück, der Name sei eine Herkunftsbezeichnung. Rübekeil sieht darin vielmehr eine aus militärischen Wurzeln im Sinne von 'sich verteidigen', 'sich wehren' abgeleitete, ethnisch neutrale und an eine vorzeitliche Ethnie der Bojer erinnernde Bezeichnung für die 'Bewohner' des Raumes, die möglicherweise zeitgleich von außen, vielleicht von den Alemannen (oder Thüringern oder Langobarden), jener romanisch-germanischen Mischbevölkerung gegeben, wie von dieser im Inneren adaptiert worden sei. Der in diesem Zusammenhang einschlägige Diskussionsbeitrag von Roland Schumann [1] wurde leider nicht berücksichtigt. Alheydis Plassmann, Zur Origo-Problematik unter besonderer Berücksichtigung der Baiern (163-182), hebt hervor, dass die erst im 12. Jahrhundert überlieferte bayerische 'Stammessage' als Quelle für die bayerische Frühzeit kaum Aussagewert besitzt. Britta Kägler, "Sage mir, wie du heißt ...". Spätantik-frühmittelalterliche Eliten in den Schriftquellen am Beispiel der frühen Agilolfinger (183-196), stellt infrage, ob bereits die frühen bayerischen Herzöge Agilolfinger gewesen seien. Christa Jochum-Godglück, Walchensiedlungsnamen und ihre historische Aussagekraft (197-217), verweist darauf, dass derartige Namen nicht nur Siedlungen von Romanen, sondern auch Fiskalbezirke bezeichnen können. Andreas Schorr, Frühmittelalterliche Namen an Iller, Donau und Lech. Ihr Aussagewert für eine transdisziplinäre Kontinuitäts- und 'Ethnogenese'-Diskussion (219-243), bettet seine Beobachtungen zu bayerischem und alemannischem Namensgut ein in die generelle etymologische Diskussion. Brigitte Haas-Gebhard, Unterhaching - Eine Grabgruppe der Zeit um 500 n. Chr. (245-271): Der spektakuläre Fund verweist auf eine um 500 dort ansässige Gruppe hochrangiger Personen, vermutlich christlichen Glaubens. Arno Rettner, Zur Aussagekraft archäologischer Quellen am Übergang von der Antike zum Frühmittelalter in Raetien (273-309), stellt methodische Möglichkeiten und Schwierigkeiten archäologischer Interpretationen vor. Hubert Fehr, Friedhöfe der frühen Merowingerzeit in Baiern - Belege für die Einwanderung der Baiovaren und anderer germanischer Gruppen? (311-336), bezweifelt diese, insbesondere von der älteren Forschung vertretene These und sieht darin eine durch archäologische Funde nicht zu stützende Meistererzählung. Barbara Hausmair, Kontinuitätsvakuum oder Forschungslücke? Der Übergang von der Spätantike zur Baiernzeit in Ufernoricum (337-358), bezweifelt die von der Vita Severini behauptete Besiedlungsdiskontinuität in Oberösterreich aufgrund der archäologischen Befunde. Jaroslav Jřík, Böhmen in der Spätantike und der Völkerwanderungszeit unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zu Baiern und Thüringen (359-402), skizziert die dortigen Befunde und widerspricht aufgrund der archäologischen Zeugnisse der These einer Einwanderung aus dem böhmischen Raum nach Bayern. Eva Kropf, Möglichkeiten und Grenzen der Anthropologie, dargestellt am Beispiel des frühmittelalterlichen Gräberfeldes von Enkering (Landkreis Eichstätt) (403-412), kontrastiert ältere und neuere Methoden anthropologischer Untersuchungen und erörtert die darin liegenden methodischen Risiken. Josef Löffl, Wirtschaftshistorische Grundgedanken zum bairischen Raum in der Spätantike (413-424), betont die durch die Donau sowie den Zugang zu den Alpenpässen begründete verkehrsgünstige Lage Bayerns, die vermutlich organisatorische Kontinuität bedingt habe.
Stefan Esders, Spätantike und frühmittelalterliche Dukate. Überlegungen zum Problem historischer Kontinuität und Diskontinuität (425-462), schildert institutionelle und finanzielle Strukturen des libyschen dux um 500 sowie des istrischen um 800 und fordert deren Berücksichtigung für die Untersuchung des frühen bayerischen Dukats. Irmtraut Heitmeier, Die spätantiken Wurzeln der bairischen Noricum-Tradition. Überlegungen zur Genese des Herzogtums (463-550), erklärt aus der erst später erfolgten Integration Raetiens und Noricums die Eigenheit der bayerischen Herzogsherrschaft in zwei Teile. Philippe Depreux, Auf der Suche nach dem princeps in Aquitanien (551-566), setzt sich kritisch mit Karl Ferdinand Werners Modell der "principautés périphériques" auseinander und sieht im aquitanischen principatus ein karolingerzeitliches Konstrukt. Christian Later, Zur archäologischen Nachweisbarkeit des Christentums im frühmittelalterlichen Baiern. Methodische und quellenkritische Anmerkungen (567-611), vertritt die Auffassung, dass das Christentum in den römischen Provinzen Raetien und Ufernoricum bereits so fest etabliert war, dass es in den Grabbeigaben nicht mehr eigens betont wurde. Roman Deutinger, Wie die Baiern Christen wurden (613-632), schließt sich der Auffassung Laters von einer bereits früh erfolgten Christianisierung Bayerns an und hält die schriftlichen Berichte über eine Missionierung der Bayern im 7. und 8. Jahrhundert für aus individuellen Interessen gespeiste spätere Meistererzählungen. Beschlossen wird der Band durch den Abschnitt "Runder Tisch: Regensburg im frühen Mittelalter", in dem "aktuelle Perspektiven aus archäologischer, namenkundlicher und historischer Sicht" erörtert werden. Einer Einführung (633-634) folgen die Beiträge von Silvia Codreanu-Windauer, Zum archäologischen Forschungsstand in und um Regensburg (634-639); Arno Rettner, Historisch-archäologische Überlegungen zur Bedeutung Regensburgs im 6. und 7. Jahrhundert (640-653); Wolfgang Janka, Der Raum Regensburg - namenkundlicher Forschungsstand und Perspektiven (653-658) sowie von Alois Schmid, Probleme der Frühgeschichte Regensburgs aus historischer Sicht (658-662).
Der Band überzeugt durch die zahlreichen inhaltlich und methodisch weiterführenden Resultate und setzt daher für die künftige Beschäftigung mit der bayerischen Frühgeschichte wichtige neue Impulse. Besonders hilfreich sind zudem die zahlreichen neuen Karten, die ihrerseits einen eigenen Forschungsbeitrag darstellen.
Ein Register zur weiteren Erschließung des Bandes fehlt bedauerlicherweise, wenngleich dies angesichts des durch die Fülle an Namen und Orten entstandenen Arbeitsaufwandes verständlich ist.
Anmerkung:
[1] Roland Schumann: Oser oder Boier? Zu Tacitus' Germania, c. 28,3 und dem Namen der Bayern, in: Beiträge zur Namensforschung 36 (2001), 249-262.
Stephan Freund