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Stephan Conermann: Islamische Welten. Einführung, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 9 [15.09.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/09/forum/islamische-welten-181/

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Islamische Welten

Einführung

Von Stephan Conermann

Nachdem es im April und im Juli zwei thematische FOREN Islamische Welten gegeben hat [eines zur Mamlukenzeit (1250-1517) (www.sehepunkte.de/2013/04/forum/islamische-welten-forschungen-zum-mamlukenreich-1250-1517-170/ und eines zum indischen Mogulreich (www.sehepunkte.de/2013/07/forum/die-mogulzeit-in-indien-171/)] erscheint in dieser sehepunkte-Ausgabe wieder einmal ein ganz normales islamwissenschaftliches FORUM.

Wenn wir uns die besprochenen Werke einmal aus einer chronologischen Perspektive ansehen wollen, so steht am Anfang ein mittlerweile sehr bekanntes Werk. Der Verfasser Thomas Bauer erhielt nicht zuletzt wegen seines Buches Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams (Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011) in diesem Jahr den prestigeträchtigen Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis (http://www.dfg.de/gefoerderte_projekte/wissenschaftliche_preise/leibniz-preis/2013/bauer/index.html). Der allgemeinen Begeisterung für diese originelle und zum Nachdenken anregende Publikation kann sich auch unser Rezensent nur anschließen. (Teichgreeber zu Bauer).

Die Geschichte des frühen Islam ist aufgrund der schwierigen Quellenlage in vielerlei Hinsicht deutungsoffen. Daher bereichert jede neue fundierte Untersuchung unsere eingeschränkten Kenntnisse. In der deutschsprachigen Forschung publizierte Andreas Görke in den vergangenen Jahren zahlreiche wichtige Studien zu dieser Zeit. Nun konnte er in einer längeren Abhandlung sehr viele gute und überzeugende Argumente für die Verlässlichkeit des Kitāb al-Amwāl von Abū ʿUbaid (ca. 770-838) zusammengetragen, einem Werk, das einer innovativen Methodik folgt und in dem es um juristische Präzedenzfälle im Bereich der Steuereinziehung und der öffentlichen Finanzen geht. (Harwazinski zu Görke) Aber Görke hat sich auch (zusammen mit Konrad Hirschler) um die Erschließung neuer Quellen verdient gemacht. Damit sind "manuscript notes" gemeint, d.h. alle Ergänzungen in einer Handschrift, die nicht zum Basistext gehören. Konkret geht es um Lesevermerke, Überlieferungserlaubnisse, Lehrbefugnisse, Besitzernachweise, Lobpreisungen oder Schmähungen des Werkes, Verse der Kopisten, Stiftungseinträge sowie (seltener) um individuelle Fragmente ohne Bezug zum eigentlichen Text. Aus einem von Görke und Hirschler organisierten Workshop ist ein schöner Sammelband mit elf Beiträgen entstanden, die dieses bisher nicht intensiv genug berücksichtigte Material vorstellen und auswerten. (Conermann zu Görke/Hirschler). Bisher kaum erforschte Primärquellen bilden auch die Basis für Roman Siebertz' hochinteressante Abhandlung über das Alltagsleben und die Verhältnisse der unteren Bevölkerungsschichten innerhalb des Safavidenreiches (1501-1722). Aus dem im niederländischen Nationalarchiv in Den Haag aufbewahrten Nachlass von Wollebrand Geleynssen de Jongh (1594-1684), der 1641-1643 und 1645-1647 als Leiter der niederländischen Vereinigte Ostindische Compagnie (VOC) in Iran tätig gewesen ist, wertet Siebertz fünf Rechnungsbücher aus, die uns einen tiefen Einblick in das tägliche Leben der Gesellschaftsangehörigen und der Einheimischen vor Ort geben. (Conermann zu Siebertz)

Zu der Ausstellung "Princes and Painters in Mughal Delhi, 1707-1857", die vom 7. Februar bis 6. Mai 2012 im Asia Society Museum in New York zu sehen war, entstand ein Begleitband, der zwar einen guten Einblick in die Kunstproduktion der späten Mogulzeit liefert und viele prachtvolle Abbildungen mit zum Teil auch ordentlichen Beschreibungen enthält, aber auch einiges zu wünschen übrig lässt. Die Tiefe und Qualität der Beiträge ist recht unterschiedlich und die Erklärungen und Kommentare zu den Illustrationen formal sowie in Bezug auf den wissenschaftlichen Gehalt leider nicht einheitlich. (Redlinger zu Darymple)

Damit kommen wir schon zum 20. Jahrhundert. Berna Pekesen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Turkologie des Asien-Afrika-Instituts der Universität Hamburg, räumt mit der verbreiteten Vorstellung auf, dass es nach der Gründung der Türkei weiterhin einen türkisch-jüdischen modus vivendi gegeben habe. Nachdem sich die Atmosphäre im Zuge des aufkommenden türkischen Nationalismus bereits in den 1920er Jahren vollkommen verändert hatte, kam es vom 21. Juni bis zum 4. Juli 1934 in Ostthrakien zu pogromartigen Ausschreitungen. Die vorgelegte Arbeit, so die Meinung des Rezensenten, widerlege zum einen den Topos von "Betriebsunfällen" innerhalb der ansonsten friedlichen Beziehungen zwischen Türken und Juden. Zum anderen leiste sie auch einen wichtigen Beitrag zur Migrations- und Ansiedlungspolitik der kemalistischen Republik. (Kara zu Pekesen) Dass sich Aleviten vor allem durch die Abgrenzung von Sunniten wie Schiiten definieren, ist in der Fachliteratur allgegenwärtig. Wie diese Abgrenzung aus alevitischer Perspektive konkret aussieht und legitimiert wird, und wie das Alevitentum im Rahmen der verschiedenen Abgrenzungsdiskurse zum Islam positioniert wird, wurde bislang noch nicht umfassend untersucht. Ziel einer neuen Arbeit ist daher, die verschiedenen Verortungen des Alevitentums innerhalb und außerhalb des Islam aus alevitischen Perspektiven zu dokumentieren, nach ihrer Bedeutung für die kollektive Identität der Aleviten zu befragen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu diskutieren. Die durchweg gelungene Untersuchung wertet in diesem Zusammenhang die unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen als Aussagen von Akteuren, die divergierende Konzepte von alevitischer Identität vertreten. Im Mittelpunkt stehen dabei die von Aleviten vertretenen Standpunkte. Aussagen von Vertretern der türkischen Religionsbehörde und anderen nicht-alevitischen Beteiligten am religiös-politischen Diskurs fließen insoweit ein, wie sie Einfluss auf die alevitischen Standpunkte haben und notwendig für das Verständnis der Debatte sind. (Kara zu Gorzewski)

Der aus Algerien stammende Mohammed Arkoun (1928-2010), der 20 Jahre lang als Professor an der Université de la Sorbonne Nouvelle tätig war, gilt vielen als einer der bedeutendsten muslimischen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In seinem posthum veröffentlichten Werk "Naḥwa tārīḫi muqāran li-l-adyān at-tawḥīdiyya" ("Die monotheistischen Religionen im historischen Vergleich") wird uns in Form von verschiedenen Aufsätzen und Interviews eine sehr gute Einführung in sein Konzept eines interreligiösen Dialogs der Völker im Mittelmeerraum präsentiert. (El Hajoui zu Arkoun)

Neben zahlreichen textbezogenen Studien finden sich in diesem FORUM auch zwei spannende sozialwissenschaftliche Arbeiten. Mohamed Fahmy Menza, Adjunct Assistant Professor an der American University of Cairo, präsentiert uns die Ergebnisse seiner Feldforschung zu Patronage als Merkmal ägyptischer Politik in seinem Buch "Patronage Politics in Egypt - The National Democratic Party and Muslim Brotherhood in Cairo". Vor dem Hintergrund der Ereignisse vom 25. Januar 2011, also dem Tag, an dem in den großen Städten Ägyptens Demonstrationen begannen, welche am Freitag, dem 28. Januar 2011, bezeichnet als "Tag des Zorns", einen ersten Höhepunkt erlebten, prüft der Autor in einer Mikrostudie in Nasr City, welche Bedingungen Patronagepolitik in Ägypten begünstigten und wieso sich die Netzwerke der NDP und der Muslimbruderschaft auch nach Ende der Ära Mubarak als beständig erweisen. (Schüller zu Menza) Von Ägypten nach Mittelasien, genauer: nach Tadschikistan. Hafiz Boboyorov, Projektmitarbeiter im Rahmen eines VW-Verbundprojektes zum Thema "Local Governance and Statehood in the Amu Darya Border Region (Afghanisatn, Tajikistan, Uzbekistan)" an dem Bonner Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) hat eine sehr aufschlussreiche Promotion über das Regierungshandeln in ruralen Siedlungen in der südtadschikischen Grenzregion Khatlon vorgelegt. Nach dem verheerenden Bürgerkrieg in den Jahren von 1992 bis 1997 behielt die lokale soziale Ordnung in Tadschikistan ihre wesentliche institutionelle Prägung im Rahmen von lokalen Regierungsprozessen bei. Dennoch ist es natürlich zu einer schwierigen Phase der Neu- und Umorientierung gekommen. Die politischen Akteure mussten sich dabei auf kollektive Normen und Identitäten stützen, um die post-sowjetischen Entwicklungen und Veränderungen in lokale Strukturen gießen zu können. (Conermann zu Boboyorov)

Auf der Homepage des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) lesen wir, dass im Herbst 2010 eine Gutachterrunde Tübingen und Münster/Osnabrück als Zentren für Islamische Theologie zur Förderung empfohlen hat. Im Frühjahr 2011 folgten Frankfurt/Gießen und Erlangen-Nürnberg. Nachdem die Universität Tübingen im Oktober 2011 den Lehrbetrieb aufnahm, wurde am 16. Januar 2012 das Zentrum durch die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan offiziell eröffnet. In Münster/Osnabrück und Frankfurt/Gießen hat die Arbeit der Zentren ebenfalls im Wintersemester 2011/12 begonnen, die Universität Erlangen-Nürnberg folgte zum Oktober 2012. An allen vier Zentren werden künftig islamisch-theologische Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, in der Sozialarbeit tätige Personen, Religionslehrerinnen und Religionslehrer sowie Religionsgelehrte unter anderem für Moscheen ausgebildet. Dass das ganze Unterfangen höchst schwierig ist, da in der ersten Generation ja kein wirklich ausgebildetes Personal vorhanden sein kann, ist allen natürlich schmerzlich bewusst. Ein engagierter Kritiker der wissenschaftlichen Qualifikation vieler Mitarbeiter im Bereich der Islamischen Theologie an den genannten Standorten ist Hans-Thomas Tillschneider von der Universität Bayreuth. In diesem Forum kritisiert er sehr scharf eine Dissertation, die - durchaus problematisch - im Rahmen der nicht-bekenntnisgebundenen Islamwissenschaft an der Universität Wien bei Rüdiger Lohlker angefertigt wurde. (Tillschneider zu Bauer)

Zum Schluss unseres Forums haben wir noch die Besprechung eines sehr sehenswerten Films. Das zwölfte Filmfest "FrauenWelten", das vom 22. bis zum 28. November 2012 in Tübingen stattfand, wurde eröffnet durch Kadija Lecleres Beitrag "Le sac de farine". Die aus Marokko stammende Belgierin erzählt uns in eindrucksvollen Bildern die berührende Geschichte der kleinen Sarah, die in einem katholischen Internat in Belgien von Ordensschwestern erzogen und im Alter von acht Jahren von ihrem leiblichen Vater entführt wird. (Harwazinski zu Leclere)

Wie immer also ein spannendes und höchst interessantes FORUM!

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