Karl F. Morrison / Rudolph M. Bell (eds.): Studies on Medieval Empathies (= Disputatio; Vol. 25), Turnhout: Brepols 2013, XXXII + 347 S., ISBN 978-2-503-53031-4, EUR 90,00
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Während 'Freundschaft' und 'Liebe' in den vergangenen Jahren aus mediävistischer Sicht breit thematisiert wurden, ist die Empathie bislang noch kaum in den Fokus der Forschung gerückt. Dies konstatiert Karl. F. Morrison im einführenden Beitrag der ihm gewidmeten Festschrift - was zugleich deren außergewöhnliche Anlage vorführt, nimmt doch der Geehrte, seines Zeichens Professor of History and Poetics an der Rutgers University (New-Brunswick), selbst aktiv Anteil. Der Leser dankt es ihm, denn es ist Morrison selbst, der den konzeptionellen Rahmen des Bandes vorgibt (1-58): Unter Empathie wird der Blick auf den Anderen aus dessen eigener Sichtweise heraus verstanden (5), also das, was landläufig als "Einfühlungsvermögen" bezeichnet wird. Das Thema ist auf theoretischer Ebene schwierig zu fassen, weil ein lateinisches Äquivalent für den modernen Begriff der Empathie fehlt: Das Untersuchungsgebiet liegt also zwischen clementia, misericordia und compassio und ist damit eng an christliche Wertvorstellungen gebunden.
Das (so allerdings nicht ausdrücklich formulierte) Hauptinteresse des Bandes ist enger gefasst als in Morrisons Überlegungen und zielt letztlich auf die Frage nach der Möglichkeit des Menschen, Gott zu erfahren. Dafür, so etwa Gregor der Große, sei Einfühlungsvermögen in das Leiden der Märtyrer nötig (animum dolentis et justi in semetipsis assumere), da sonst ein tieferes Verständnis des Wirkens Gottes fehle (19). Empathie wird damit als theologische Kategorie festgeschrieben (47), was das Themenspektrum der Beiträge treffend beschreibt. Dies macht den Band inhaltlich weitgehend kohärent; jede Frage nach zwischenmenschlicher Interaktion, nach gelebtem Einfühlungsvermögen, wie es Briefe, Chroniken oder andere Quellen schildern könnten, bleibt dabei jedoch außen vor.
Die Beiträge von Giselle de Nie (61-89) und Constance B. Bouchard (91-114) beschäftigen sich mit der Mittlerrolle, die Heiligen bei Gebeten zugesprochen wurde. Beide nehmen dabei frühmittelalterliche Viten in den Blick und konstatieren übereinstimmend, dass etwa Paulinus von Périgueux in seiner Überarbeitung der Martins-Vita gegenüber Sulpicius Severus nicht einen entrückten Heiligen präsentierte, sondern einen fühlenden und leidenden Menschen. Durch die Thematisierung der inneren Gemütslage des Heiligen sei dessen Wirken (und damit seine Vorbildfunktion) für die Gläubigen besser nachvollziehbar gewesen.
Zwei weitere Beiträge gehen mit dem Blick auf die Mittlerfunktion von Gebeten oder Objekten einer ähnlichen Fragestellung nach: Rachel Fulton Brown (115-138) führt aus, dass die orationes Anselms von Canterbury primär an Heilige und nicht an Gott gerichtet waren, da Anselm sich von ihnen Läuterung und erst dadurch eine Annäherung an Gott versprochen habe. Herbert L. Kessler (142-185) thematisiert am Beispiel der 'ehernen Schlange' (die nach Num 21,4-9 heilende Kräfte hatte) die theologische Debatte des 8. und 9. Jahrhunderts darüber, ob der Betrachtung von Bildern oder Objekten beim Gebet eine eigene Heils- und Vermittlungsfähigkeit zukomme.
Um die Frage der Nähe zu Gott geht es in den Beiträgen von Barbara Newman (189-212) und Bernard McGinn (213-236). Beide Autoren fassen das Streben vieler Mystiker des 13. und 14. Jahrhunderts, die Grenzen des eigenen Ichs zu überwinden und spirituell mit Gott eins zu werden, als 'Empathie'. Newman geht dazu der Metapher der Schwangerschaft in der Theologie nach, McGinn konzentriert sich auf das Motiv der caritas, das in der Form der Nächstenliebe zur eigentlichen imitatio Christi stilisiert worden sei.
Dass christliches Mitgefühl nicht auf Christen beschränkt war, zeigen Marcia L. Colish (237-253) am Beispiel des "Buchs vom Heiden und den drei Weisen" des Ramon Llull, sowie Sabine MacCormack (257-290). Letztere thematisiert die Hoffnung des spanischen Humanisten Juan Luis Vives auf Gottes milden Ratschluss: In seinem Kommentar zu Augustinus' Civitas Die (1522) weichte Vives das striktes Dogma der ewigen Höllenstrafen auf, das der Kirchenvater entwickelt hatte, da er vor dem Hintergrund der Entdeckung Amerikas nicht glauben mochte, dass dessen Einwohner, obwohl ungetauft, nicht auf Gottes Gnade hoffen dürften.
Insgesamt bietet der Sammelband ein breites Spektrum an Studien zu Über- und Bearbeitungsintentionen hagiographischer Werke, zur Suche christlicher Mystiker nach der Nähe Gottes und zu mitfühlenden christlichen Blicken auf andere Religionen. Das Konzept der Empathie bleibt jedoch trotz der einführenden Skizze Morrisons meistens nur Beschreibungsmodell und damit analytisch unscharf: Mittelalterliche Autoren hätten durch ihre Schilderungen beim Leser "Empathie erwecken" (101) wollen oder selbst "mit tiefer Empathie" (109) Sachverhalte geschildert, statt Sympathie wird Empathie als Gegenteil von Antipathie definiert (293) und für Quelleneditionen wird "philologische Empathie" (142) als wünschenswertes Ziel formuliert. Aufgrund dieser Spannweite liegt der Wert des Bandes eher in den einzelnen Studien, die sich thematisch zugleich mehrfach gewinnbringend ergänzen.
Christoph Mauntel