Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, 2013, XXIX + 704 S., ISBN 978-0-141-02782-1, GBP 10,99
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Erst am Ende seines Buches verrät der bekannte, in Cambridge lehrende Deutschlandhistoriker, was er mit dem Titel seiner Darstellung der Ursprünge des Ersten Weltkrieges meint: "Die Protagonisten von 1914", so schließt er, "waren, Schlafwandelnden gleich, zwar auf ihrer Hut, jedoch nicht sehfähig; sie jagten Träumen nach, doch waren sie blind für den Schrecken, mit dem sie sich anschickten die Welt zu überziehen " (562). Clark sucht die letzten Ursachen des Ersten Weltkrieges also kollektiv in der damaligen politisch-mentalen Kultur.
Wie ist er zu dieser Deutung gelangt? Seine Darstellung greift weit aus und vermittelt damit den Erfahrungshorizont der Entscheidungsträger bei der Auslösung des Krieges. Im ersten Hauptteil widmet er sich ganz den Kontrahenten Serbien und der Habsburger Monarchie. Für Serbien setzt er mit der Ermordung von dessen Monarchen am 11. Juni 1903 ein, für die serbische Offiziere verantwortlich waren. Sie standen unter der Führung von Dragutin Dimitrijević, - dem späteren Militärspionagechef - keinem anderen als dem Hintermann des Mordanschlages auf den österreichischen Thronfolger vom 28. Juni 1914 in Sarajewo. Serbien wendete sich unter seinem neuen Monarchen, auch finanziell, der russisch-französischen Allianz zu. Dieser und die politische Führung blieben vom Militär abhängig. Ein Ziel verband Politiker und Militärs - die ethnisch-kulturell etwas fragwürdige Vision eines großserbischen Nationalstaats nach italienischem Vorbild. Dem stand das Habsburger Reich im Wege. Strittig blieb, ob man, wie die Militärs, ein baldiges terroristisch unterstütztes Losschlagen gegen die Doppelmonarchie bevorzugen sollte oder aber wie der Ministerpräsident Nikola Pašić eher ein diplomatisches Vorgehen. Vor diesem Hintergrund und unter besonderer Herausarbeitung der Rolle Pašićs verfolgt Clark die "schlafwandlerisch", das heißt ohne Blick für weltpolitische Folgen, vorangetriebenen geheimdienstlichen Vorbereitungen für das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand. Wie er nachweist, hörte Pašić zwar gerüchteweise von dem Mordvorhaben, verurteilte dieses intern auch als "Landesverrat" (58), konnte aber ein Einreiseverbot für die Attentäter nach Bosnien-Herzegowina gegenüber den Militärs nicht durchsetzen. Die für Clark nicht zuletzt wegen ihrer boomenden Wirtschaft durchaus zukunftsfähige Habsburger Monarchie war sich der Gefahren bewusst, die der (auch von Clark kaum geschätzte) südslawische Nationalismus mit wachsender russischer Rückendeckung verkörperte. Einen Präventivkrieg befürworteten in Wien trotzdem nur wenige Militärs, nicht jedoch die politische Führung oder das Herrscherhaus.
Wie konnte sich dieser lokale Konflikt zum Weltkrieg ausweiten? Teil II bringt die Antwort Clarks. Als Haupthintergründe nennt er die zunehmende Polarisierung zwischen den beiden rivalisierenden europäischen Bündnissystemen sowie die wachsende Isolierung der Mittelmächte seit Bismarcks Entlassung. Dieser Prozess gipfelte in der britisch-russischen Konvention von 1907, mit der Russland der britisch-französischen Entente beitrat, englischerseits weniger eine Antwort auf die deutsche Flottenrüstung als eine Abwehrreaktion gegenüber dem Vordringen des Zarenreiches in Asien.
Den unmittelbaren Ausgangspunkt des europaweiten Krieges erblickt Clark in dem Angriff Italiens auf die Türkei zum Erwerb Libyens und in den dadurch entfesselten Balkankriegen, das heißt dem Wettlauf der Anrainer um die türkischen Gebiete in Europa. Aus diesem ging Serbien mit einer Verdoppelung seines Territoriums als Hauptgewinner hervor, während Wien 1913 durch ein Ultimatum (!) lediglich ein serbisches Festsetzen in Albanien verhindern konnte. Die russische Regierung gewann Raymond Poincaré , den französischen Ministerpräsidenten, für eine Beistandszusage für den Fall eines deutschen Eingreifens in einen serbisch-österreichischen Konflikt. Clark bezeichnet das als "Balkan inception scenario" (350f.) - als den Zünder ("trigger") für einen europäischen Krieg: "By the spring of 1914, the Franco-Russian Alliance had constructed a geopolitical trigger along the Austro-Serbian frontier. They had tied the defence policy of three of the world's greatest powers to the uncertain fortunes of Europe's most violent and unstable region". Sie taten dies in der Hoffnung auf einen Kriegseintritt unter optimalen Bedingungen und russischerseits auf die Zustimmung der Westmächte zu seiner Festsetzung an den Meerengen (294, 298f., 481). Die britische Außenpolitik unter Edward Grey, völkerrechtlich ungebunden, warnte Deutschland 1912 dennoch vor einer britischen Unterstützung Russlands und Frankreichs, falls Österreich mit deutscher Hilfe Serbien angriffe (354). Unvermeidlich war für Clark der Erste Weltkrieg damit weiterhin nicht: Noch vermittelten die Großmächte auf dem Balkan. Auch entspannte sich im Zeichen des britischen Sieges in dem deutsch-britischen Flottenrüstungswettlauf das Verhältnis zwischen diesen beiden Mächten.
Bei der Schilderung der Julikrise (Teil III) kann Clark vielfach auf frühere Forschung zurückgreifen, setzt aber auch hier neue Akzente: So deckt er zum Beispiel in der Interpretation des Attentats durch jede der Großmächte spontane und zugleich ominöse Voreingenommenheiten auf: Die Entente bestritt - ohne Sachkenntnis - jede Verwicklung Belgrads in den Anschlag; Österreich, durch die Aussagen der festgenommenen serbischen Terroristen besser informiert, behauptete von Anfang an das Gegenteil - aus Sicht der Entente dennoch lediglich ein Vorwand für eine militärische Abrechnung mit Serbien (428). Der berühmte "Blanko"-Scheck Berlins für Wien vom 6. Juli 1914, das heißt die Unterstützungszusage für den Fall kriegerischer Verwicklungen als Folge des Attentats, war nach Clark primär für einen sofortigen auf Serbien und die Doppelmonarchie begrenzten Krieg gedacht, nicht so sehr jedoch für ein Eingreifen Russlands, das man leichtfertiger Weise - eben: "schlafwandelnd" - ignorierte (415). Das Treffen des Zaren mit Poincaré in Petersburg am 20./21.7. aktivierte das "Balkan inception scenario", das heißt die Bereitschaft der Entente zum Krieg, falls Wien gegen Belgrad vorging. Die serbische Antwort auf das österreichische Ultimatum, die den Automatismus der Kriegerklärungen und Mobilmachungen auslöste, bezeichnet Clark dann als "parfümierte" Ablehnung (466). Die amtliche britische Außenpolitik endlich charakterisiert er trotz ihres fehlenden Interesses am Balkan als hypnotisiert von der Gefahr einer deutschen Vormachtstellung in Europa bei einem Sieg der Mittelmächte über die Entente. Ohne Rücksicht auf die mehrheitlich interventionsfeindliche Haltung der Presse und noch ohne Bezug auf die belgische Neutralität, dafür aber umso mehr um die Haltbarkeit der Triple-Entente besorgt, habe Grey schließlich doch die Beteiligung Großbritanniens an der militärischen "Eindämmung" Deutschlands durch die Entente durchgesetzt (547, 551).
Dies waren also die Gemeinsamkeiten der politischen Mentalitätskultur, die Clark bei seinen Entscheidungsträgern herausgearbeitet hat: eine Art Betriebsblindheit bei der Deutung der gegnerischen Absichten; die Angstvorstellung, dass die Zeit gegen einen selbst arbeite; die Bereitschaft zur Kriegsandrohung und zum Kriege, wenn Nachgiebigkeit das eigene Bündnis zu gefährden schien. Niemand wollte jedoch einen Präventivkrieg entfesseln. Alle nahmen trotzdem die Ausweitung eines "dritten Balkankrieges" zu einem Weltkrieg in Kauf - für Clark eine "Tragödie", aber kein Verbrechen.
Clark geht von einem multilateralen und zugleich vergleichend-verallgemeinernden Ansatz aus. Er befreit die Erste-Weltkriegs-Schuld-Debatte allgemein und die spätere Fischer-Kontroverse speziell von deren nationalstaatlichen Verengungen - ein ganz entscheidendes Verdienst, wenn es dafür auch schon Vorbilder gab (Fay, Albertini). Sein Buch ist trotzdem weit mehr als eine bloße Synthese. Originell ist sein Fokus auf dem Balkan, während er Imperialismustheorien auf sich beruhen lässt. Für Strittiges befragt und zitiert er die Quellenüberlieferung der Einzelstaaten bis hin zu Serbien und gibt seiner Darstellung dadurch zusätzliche Originalität und Authentizität. Im Mittelpunkt stehen die anschaulich charakterisierten Entscheidungsträger, im Hintergrund überpersönliche politische und wirtschaftliche Begleitfaktoren. Alles in allem eine ausgewogene und auch für den allgemein interessierten Leser fesselnde Darstellung!
Einwände gibt es natürlich: So erscheinen die von Clark angedeutete Verwicklung von Pašić in den Sarajewo-Komplott sowie die von ihm als möglich erklärte Chance eines serbischen Einlenkens in der Julikrise nach entsprechendem russischen Druck als eher unwahrscheinlich (58ff. u. 462, 480). Der deutsche Leser mag eine eingehendere Würdigung Bethmann Hollwegs vermissen. Doch das sind Einzelfragen. Insgesamt darf man Clarks Buch als Meisterwerk bezeichnen. Eine deutsche Übersetzung ist für den Herbst angekündigt.
Klaus Schwabe