Dorothee Weitbrecht: Aufbruch in die Dritte Welt. Der Internationalismus der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik, Göttingen: V&R unipress 2012, 421 S., ISBN 978-3-8997-1957-4, EUR 39,90
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Quinn Slobodian: Foreign Front. Third World Politics in Sixties West Germany, Durham / London: Duke University Press 2012, XII + 304 S., ISBN 978-0-8223-5184-9, USD 24,95
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Mark Mazower: No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2009
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Am 4. August 1969 empfing Bundespräsident Gustav Heinemann ungewöhnlichen Besuch. Gegen den ausdrücklichen Rat des Auswärtigen Amtes und zur Überraschung seiner eigenen Mitarbeiter sprach Heinemann mit Studenten aus der "Republik Biafra". Biafra hatte im Jahr 1967 seine Unabhängigkeit von Nigeria erklärt und befand sich seitdem im Krieg mit der Regierung in Lagos. Die Bundesrepublik Deutschland hatte Biafra nicht anerkannt und wollte sich im Konflikt offiziell neutral zeigen, was einer Begünstigung der nigerianischen Regierung gleichkam. Die biafranische Delegation, die von deutschen Studenten eingeladen worden war, versuchte erfolglos die Kiesinger-Regierung zur Anerkennung Biafras zu bewegen. Dennoch verbuchten die Biafraner - wie auch ihre deutschen Verbündeten - allein schon das Zustandekommen des Gesprächs mit dem deutschen Staatsoberhaupt als Erfolg. Heinemann hatte sich für den Empfang trotz diplomatischer Bedenken entschieden, da er befand, dass "das 'Biafra'-Problem [...] sich ebenso wie der Vietnamkrieg zu einem Trauma der deutschen Studenten und Jugendlichen ausgewachsen [habe]. Nicht um irgendwie zugunsten der einen Seite Stellung zu nehmen, sondern um den jungen Leuten zu beweisen, daß man ihre Sorgen anhöre und mit ihnen darüber spreche", empfing er die Gruppe. [1]
Die Biafraner waren nicht die einzigen und vor allem nicht die ersten ausländischen Studenten, die - vereint mit deutschen Verbündeten - in der Bundesrepublik ihren politischen Kampf an einer "ausländischen Front" kämpften. Allerdings hat die historische Forschung solche transnationalen Proteste bisher kaum in den Blick genommen. Nun sind gleich zwei neue Arbeiten erschienen, die das Zusammentreffen von deutschen und ausländischen Studenten in den 1960er Jahren thematisieren: Dorothee Weitbrechts an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt entstandene Dissertation "Aufbruch in die Dritte Welt" sowie Quinn Slobodians Buch "Foreign Front", mit welchem er an der New York University promoviert wurde.
Beide Arbeiten stellen den persönlichen Kontakt zwischen deutschen und Studenten aus der "Dritten Welt" in den Mittelpunkt und fokussieren vor allem auf deren Bedeutung für die Entwicklung der Westberliner Studentenbewegung um 1968.
Quinn Slobodian geht es in seiner Arbeit um zwei zusammenhängende Aspekte: Erstens will er die Rolle von Studenten aus der "Dritten Welt" bei der Radikalisierung der Studentenbewegung zeigen, und zweites möchte er erklären, warum die ausländischen Studenten in der Erinnerung an 1968 keine Rolle spielen. Dorothee Weitbrecht dagegen interessiert sich dafür, warum Anfang der 1970er Jahre Beteiligte der Studentenbewegung zu Aufenthalten in der "Dritte Welt" aufbrachen.
Vergleichbar werden beide Arbeiten nicht nur durch den gemeinsamen Fokus auf transnationale Kontakte, sondern auch durch das Interesse der AutorInnen für die Politisierung der deutschen Studenten. Beide Arbeiten betonen das politische Desinteresse deutscher Studenten in den 1950er Jahren und heben den Bezug zur "Dritten Welt" als wichtigen Politisierungsfaktor für die deutsche Studentenschaft in den 1960er Jahren hervor. Über bisherige Arbeiten gehen sie hinaus, indem sie die persönlichen Kontakte zwischen deutschen und Studenten aus der "Dritten Welt" analysieren.
Mit diesem Fokus wenden sich Weitbrecht und Slobodian gegen ältere Arbeiten, die die deutsche Studentenbewegung lediglich durch Texte aus der "Dritten Welt" beeinflusst sahen, und ergänzen neuere Forschungen, die sich auf personelle Netzwerke zwischen deutschen und Studenten aus den USA beschränken.
Vor allem in Slobodians erstem Kapitel wird die Dynamik deutlich, die aus Kontakten zwischen Deutschen und Studenten aus dem außereuropäischen Ausland entstand. Eigentlich waren die ca. 10.000 Studenten aus der "Dritten Welt", die in den 1960er Jahren an westdeutschen Universitäten eingeschrieben waren, aus ihren Heimatländern in die Bundesrepublik geschickt worden, um technische Fertigkeiten zu erlernen und um mit diesem Wissen die neuen Staaten in Asien und Afrika aufzubauen. Doch anders als von Bonn oder ihren Heimatregierungen erwartet, organisierten sich die Studenten politisch und kämpften in der Bundesrepublik gegen Missstände in ihrer Heimat. Die Proteste, für die sie zunehmend deutsche Studenten mobilisieren konnten, konzentrierten sich zunächst vor allem auf Repressionen im Iran und den portugiesischen Kolonien sowie auf die Apartheid in Südafrika. Laut Slobodian lieferten die ausländischen Gäste mit ihren Protesten den deutschen Studenten nicht nur politische Themen und Aktionsformen, sondern auch ein Modell für studentische politische Partizipation insgesamt. Im Hinblick auf die Politisierung der ausländischen Studenten unterscheiden sich die Urteile von Slobodian und Weitbrecht deutlich. Weitbrecht vermutet, dass die ausländischen Studenten in der Bundesrepublik von deutschen Studenten politisiert wurden. Ohne dies tatsächlich zu untersuchen, geht sie davon aus, dass die mehrheitlich aus reicheren Familien stammenden Studenten aus der "Dritten Welt" politisch konservativ gewesen seien und erst von deutschen Studenten "erweckt" werden mussten. Slobodian hält dagegen fest, dass die ausländischen Studenten in der Bundesrepublik eine nie zuvor gekannte Meinungsfreiheit erfahren hätten, die einen kritischen Blick auf ihre Heimat ermöglicht habe. Allerdings kann Slobodian das auch nicht belegen, so dass diese Frage weiterhin offen bleibt.
Was Slobodian aber zeigen kann, ist der Wandel der staatlichen Reaktionen auf die Proteste und die wachsende Solidarität deutscher Studenten mit den Anliegen der ausländischen Gäste. Da gerade auch mit der Bundesrepublik verbündete Regierungen kritisiert wurden, suchten das Auswärtige Amt und das Innenministerium - häufig in Absprache oder sogar auf Anweisung ausländischer Regierungen - den Protest zu unterbinden und die Protestierenden abzuschieben. Dieser von deutschen Studenten als undemokratisch wahrgenommene Umgang mit Dissens förderte somit deutsche Solidaritätsaktionen. Die zunehmende Unterstützung von deutschen Studenten, aber auch von Gerichten und Medien erschwerte eine staatliche Unterdrückung des ausländischen Protests, so dass - anders als zu Beginn der Dekade - eine Abschiebung von politisch missliebigen ausländischen Studenten Ende der 1960er immer schwieriger wurde.
Während Weitbrecht die Rolle der ausländischen Studenten für die Politisierung der deutschen Studentenschaft auf die Internationalisierung des Problembewusstseins beschränkt, hebt sie die von der Forschung noch wenig beachtete Verbindung zwischen christlichen Studentenorganisationen und wichtigen Akteuren der Studentenbewegung hervor. Die Politisierung des Evangeliums und die Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils öffneten beide Kirchen für protestierende Studenten, wobei es gerade bezüglich der Probleme der "Dritten Welt" Anknüpfungspunkte gab.
In der Integrationsfigur Rudi Dutschke verbanden sich idealtypisch christliche und sozialistische Visionen, die an der "Dritten Welt" und besonders im Kontakt mit Lateinamerikanern in Berlin geformt worden waren. Auf Rudi Dutschke bzw. die Verbindung zwischen dem Westberliner SDS und den am Osteuropa-Institut der Freien Universität studierenden lateinamerikanischen Studenten gehen beide Bücher ein. Weitbrecht sieht die Begegnungen mit den Lateinamerikanern und deren Verklärung durch die deutschen Studenten als "Revolutionsbotschafter" als zentrale Voraussetzung für Lateinamerika-Aufenthalte von Mitgliedern der Studentenbewegung in den 1970er Jahren.
Im Konsens mit bisheriger Forschung sehen sowohl Weitbrecht als auch Slobodian die Proteste gegen den Vietnamkrieg und gegen den Schah-Besuch 1967, die Slobodian detailreich beschreibt, als eigentlichen Beginn der deutschen Studentenbewegung. Für Slobodian sind beide Ereignisse aber noch in einer weiteren Dimension eine Zäsur. Die Ermordung des deutschen Studenten Benno Ohnesorg führte zu einer Nationalisierung der Erinnerung des Protestes, der ursprünglich von iranischen Studenten organisiert worden war. Im weiteren Verlauf sah sich die Studentenbewegung selbst zunehmend als Opfer von staatlicher Gewalt, und so verloren die Iraner in der Erinnerung an die Schah-Demonstrationen an Bedeutung. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg hingegen waren die erste Solidaritätsaktion, die nicht auf transnationale Kontakte aufbaute. Diese Kontakte spielten im weiteren Verlauf der Studentenbewegung immer weniger eine Rolle, wodurch das Dritte-Welt-Bild der deutschen Studenten immer abstrakter und medial vermittelter wurde und frühere transnationale Verbindungen aus der Erinnerung drängte. Bei Protesten gegen Gewalt und Unterdrückung in der "Dritten Welt" wurde diese zunehmend durch Bilder von Gewaltopfern und nicht mehr durch reale Personen repräsentiert. Westdeutsche Studenten sprachen nun für und nicht mehr mit dem globalen Süden. Besuche von Mitgliedern der ehemaligen Studentenbewegung in Lateinamerika, die Weitbrecht anhand von 12 Fallbeispielen analysiert, irritierten dann allerdings das abstrakte Bild, in dem die "Dritten Welt" nur als Opfer erschienen war. Das Vorhandensein einer politisch aktiven Mittelschicht und die europäische Prägung lateinamerikanischer Metropolen sowie der Kontakt zur einheimischen Opposition führten zu häufig langanhaltendem Interesse der Deutschen an Lateinamerika und konnte z.B. nach dem Putsch in Chile als Basis für zukünftige Solidaritätsaktionen in Deutschland aktiviert werden.
Beide Bücher sind dort am stärksten und zeigen dort neue Perspektiven auf, wo sie dem Aufeinandertreffen von deutschen und ausländischen Studierenden folgen. Gerade in seinem ersten Kapitel bringt Slobodian viel Neues, das klar und analytisch teilweise brillant vorgetragen wird. Weitbrechts Verdienst ist es, auf die Bedeutung kirchlicher Akteure im Kontext von Dritte-Welt-Solidarität aufmerksam zu machen, ohne dass sie diese Perspektive allerdings ganz ausschöpft. Beide Bücher konzentrieren sich zu stark auf die Studentenbewegung und vor allem auf den Westberliner SDS. Dadurch wiederholen sie häufig Altbekanntes wie die Proteste gegen den Schah oder die Anti-Vietnam-Kampagnen. Dabei hat die Perspektive auf transnationale Mobilisierungskampagnen das Potential, bisher von der Forschung wenig beachtete Solidaritätsaktionen wie die Unterstützung Biafras in den Blick zu nehmen. Dafür müsste man sich allerdings von dem Fokus auf die Studentenbewegung lösen, die - anders als Millionen Deutsche - keinen Anteil an den Ereignissen in Biafra nahm.
Anmerkung:
[1] Vermerk von Zimmermann (Bundespräsidialamt): Empfang des "Biafra-Komitees" durch den Herrn Bundespräsidenten am 4. August 1969, Bundesarchiv B122, 11625.
Florian Hannig