Rezension über:

Elke-Ursel Hammer (Bearb.): "Besondere Bemühungen" der Bundesregierung, Bd. 1: 1962 bis 1969. Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch (= Dokumente zur Deutschlandpolitik), München: Oldenbourg 2012, LXXX + 757 S., 27 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-70719-9, EUR 84,80
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Rezension von:
Jan Philipp Wölbern
Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Jan Philipp Wölbern: Rezension von: Elke-Ursel Hammer (Bearb.): "Besondere Bemühungen" der Bundesregierung, Bd. 1: 1962 bis 1969. Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch, München: Oldenbourg 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/11/22315.html


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Elke-Ursel Hammer (Bearb.): "Besondere Bemühungen" der Bundesregierung, Bd. 1: 1962 bis 1969

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Das Thema der Aktenedition ist ein bislang kaum erforschtes Gebiet der deutsch-deutschen Zeitgeschichte: Im Rahmen ihrer "Besonderen Bemühungen" kaufte die Bundesregierung von 1963 bis 1989 über 33.000 politische Häftlinge aus Gefängnissen der DDR frei, bezahlte für die Ausreise von über 200.000 Personen und vereinbarte mit der DDR den Austausch von rund 150 Geheimdienstagenten. Die Gegenleistungen an das SED-Regime summierten sich dabei auf einen Wert von rund 3,4 Milliarden DM.

Die Bearbeiterin hat bisher unveröffentlichte, teils gesperrte Dokumente aus staatlichen, kirchlichen und Parteiarchiven in West und Ost aus der Frühphase der "Besonderen Bemühungen" von 1963 bis 1969 aufgenommen, ein Folgeband soll die Jahre 1970 bis 1989 abdecken. Dadurch ist es erstmals möglich, für die 1960er Jahre ein quellenfundiertes Bild der Verhandlungen und Abmachungen zu zeichnen.

Der Schwerpunkt der ausgewählten Dokumente liegt auf bislang als Verschlusssache-Geheim eingestuften Akten der Bundesbehörden, insbesondere des damals federführenden Gesamtdeutschen Ministeriums. Dies zeigt, dass die Akten des Bundes keinesfalls "samt und sonders vernichtet" wurden, wie der frühere Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium Ludwig Rehlinger 1991 in seinen Erinnerungen schrieb. [1] Leider geben die Ausführungen zur Quellenlage keine Antwort auf die Frage, inwiefern die vorliegende Auswahl repräsentativ ist. Gerne würde man mehr darüber erfahren, nach welchen Kriterien Zusammenstellung und Offenlegung erfolgten und welche Dokumente weiterhin unter Verschluss sind. Dazu findet sich lediglich der Hinweis, die Akten stünden "der Forschung noch nicht uneingeschränkt zur Verfügung" (XXIV); auch wird nichts dazu gesagt, ob in Archiven der westlichen Verbündeten oder russischen Archiven nach einschlägigen Materialien gesucht wurde. Weitgehend vollständig aufgenommen wurde hingegen die Überlieferung aus den Archiven der Evangelischen und Katholischen Kirche, die in den 1960er Jahren eine maßgebliche Rolle spielten. Das Literaturverzeichnis ist unvollständig, einige gedruckte Quellen wie z.B. die Erinnerungen von Prälat Wilhelm Wissing, der seitens der katholischen Kirche am Freikauf mitwirkte, sowie Publikationen der letzten Jahre sind nicht erwähnt oder nur in den Fußnoten genannt.

Bezüglich der Überlieferung auf DDR-Seite ist der Befund zutreffend, dass es nur wenige im Parteiarchiv und dem Archiv des BStU überlieferte Dokumente gibt. Die MfS-Akten aus den Büros von Mielkes Sonderbeauftragten Heinz Volpert und dessen Nachfolger Gerhard Niebling wurden im Herbst 1989 weitgehend vernichtet. Indes sind die Entscheidungswege in ihren Grundzügen bekannt: Das Häftlingsgeschäft wurde von Beginn an auf persönliche Anweisung des SED-Chefs vom Minister für Staatssicherheit im Zusammenwirken mit den Justizorganen ausgeführt.

Inhaltlich ermöglicht die Edition interessante Einblicke in Entstehung, Ablauf und Entwicklungsgeschichte der "Besonderen Bemühungen", hauptsächlich auf Seiten der Bundesrepublik. Die Dokumente bestätigen die Darstellung Ludwig Rehlingers, dass Ost-Berlin den ersten Schritt tat und im Frühjahr 1963 dem Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Rainer Barzel, die Entlassung politischer Häftlinge für materielle Gegenleistungen anbot, vermittelt über die Berliner Rechtsanwälte Wolfgang Vogel (Ost) und Jürgen Stange (West). Wenn auch kein Masterplan eines groß angelegten Verkaufsgeschäftes existierte und sich beide Seiten Schritt für Schritt einander annäherten, so dokumentieren die Vermerke doch die große Skepsis der Bundesregierung. Nach dem erfolgreichem Freikauf von acht Personen 1963 wurden im Jahr darauf 888 Häftlinge für materielle Gegenleistungen aus der Haft entlassen, da Bonn Barzahlungen aus nahe liegenden Gründen ablehnte. Die Evangelische und die Katholische Kirche, vertreten durch den EKD-Bevollmächtigten in Bonn, Bischof Hermann Kunst, und Prälat Wilhelm Wissing, den Leiter des Katholischen Büros Bonn, organisierten die Abwicklung der Warenlieferungen. Die erforderlichen Mittel wurden überplanmäßig aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt, die Waren (zunächst Lebensmittel, ab 1965 überwiegend Rohstoffe) über das Diakonische Werk der EKD in die DDR transferiert. Die Kirchen übernahmen 1965 sogar die Rolle des formalen Auftraggebers der Häftlingsaktionen. Rechtsanwalt Stange verhandelte in ihrem Namen mit Rechtsanwalt Vogel, am Ende ersuchten sie die Bundesregierung um Zustimmung für das Verhandlungsergebnis.

Die Dokumente zeigen eindrücklich, dass es keinesfalls zwangsläufig war, dass die "Besonderen Bemühungen" bis zum Ende der DDR praktiziert wurden. Zunächst waren Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung und Agentenaustausch als kurzfristige Einzelmaßnahmen gedacht. Bereits 1965 erklärte die Bundesregierung ihre Bemühungen für beendet, doch im Jahr darauf entbrannte über die Frage einer möglichen Fortsetzung der Hilfen ein Grundsatzstreit zwischen den Akteuren im Westen: Während die Bundesregierung auf einer zeitlichen und qualitativen Begrenzung des Freikaufs beharrte, drängten die Kirchen und der Berliner Senat auf eine Verstetigung. Der Konflikt entzündete sich an der Frage, ob nach der Befreiung der meisten "Langstrafer" (186), d.h. Häftlinge mit Strafen ab fünf Jahren, künftig auch "Kurzstrafer" (415) in den Freikauf einbezogen werden sollten. Die Bundesregierung, vertreten durch Staatssekretär Carl Krautwig vom Gesamtdeutschen Ministerium, lehnte eine solche "uferlose Ausweitung" (357) ab, da dies die DDR womöglich sogar erst zur Verhaftung politisch missliebiger Personen animieren würde. Die Kirchen setzten dem das Argument entgegen, dass der Freikauf menschliches Leid lindere; nebenbei versprachen sie sich eine Verbesserung ihrer Stellung in der DDR. Der Berliner Senat erblickte in den Verhandlungen mit der DDR vor allem ein Instrument seiner Annäherungs- und Entspannungspolitik. Ost-Berlin war schlicht aus wirtschaftlichen Gründen an einer Verstetigung interessiert. Der Streit unter den Akteuren im Westen gipfelte 1967 im Vorwurf des Staatssekretärs, die Kirchen würden sich einem "Diktat" der Gegenseite (421) beugen: Die DDR hatte auf einer Einbeziehung der "Kurzstrafer" bestanden und drohte andernfalls mit der Einstellung des Freikaufs.

Herbert Wehner, Gesamtdeutscher Minister in der Großen Koalition, entschied im Sinne der Kirchen, akzeptierte die Forderung der DDR und setzte sich fortan persönlich dafür ein, dass die "Besonderen Bemühungen" fortgesetzt wurden. Wehner machte sie zur Chefsache. Seine Grundsatzentscheidung hatte weitreichende Folgen: Einerseits begann eine Ausdifferenzierung der Preisskala, die von 10.000 DM bis 80.000 DM pro Häftling reichte, andererseits sorgte er dafür, dass sich das Verhandlungsklima verbesserte und der Freikauf in den Folgejahren auch zahlenmäßig ausgeweitet wurde.

Mangels Quellen sind die detaillierten Entscheidungen und Veränderungen der Interessenkonstellation auf DDR-Seite weitaus schwieriger zu beurteilen. Hier liegen nur die Vermerke aus Vogels GM-Akte vor, die jedoch keinen Einblick in MfS- oder SED-interne Vorgänge geben. Ein Anhaltspunkt dafür, was die DDR-Führung neben den maßgeblichen wirtschaftlichen Vorteilen zu dem Geschäft bewog, dürfte der Umstand sein, dass von den bis 1969 Freigekauften über 2000 und damit 40 Prozent aller Häftlinge in die DDR entlassen wurden. Diese bislang unbekannte und überraschend hohe Zahl deutet darauf hin, dass das SED-Regime die negativen Folgen für das Grenzregime - durchaus erfolgreich - dadurch zu begrenzen versuchte, dass es vielen Häftlingen die Ausreise in den Westen verwehrte. Insgesamt liegt mit der Edition eine handliche Quellensammlung vor, die maßgeblich zur Schließung einer Forschungslücke beiträgt.


Anmerkung:

[1] Ludwig Rehlinger: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963 - 1989, Berlin / Frankfurt am Main 1991, 32.

Jan Philipp Wölbern