Angelika Benz / Marija Vulesica (Hgg.): Bewachung und Ausführung. Alltag der Täter in nationalsozialistischen Lagern (= Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945; Bd. 14), Berlin: Metropol 2011, 208 S., ISBN 978-3-86331-036-3, EUR 19,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Nicht erst seit Christopher R. Brownings Studie über die "ganz normalen Männer" des Polizeibataillons 101 und Daniel J. Goldhagens Untersuchung der "willigen Vollstrecker" Hitlers [1] rückten nationalsozialistische Täter in den Fokus wissenschaftlicher Forschung. Bereits in den 1960er-Jahren erschienen erste wissenschaftliche Beiträge zur Aufarbeitung der Täterthematik, denen zahlreiche Arbeiten aus unterschiedlichen Disziplinen gefolgt sind. In Ostmitteleuropa wurde im Zuge der demokratischen Wende der 1990er-Jahre Archivgut zugänglich, dessen Auswertung vermehrt Fragen nach den Akteurinnen und Akteuren innerhalb des Systems der Konzentrations- und Vernichtungslager aufwarf. Dadurch hat sich die Täterforschung bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt zunehmend intensiviert.
In diesen Diskurs reiht sich auch der vorliegende Sammelband ein, der aus einem gleichnamigen Symposium an der Berliner Stiftung Topographie des Terrors im Juli 2010 hervorgegangen ist. Die Publikation umfasst insgesamt 14 Beiträge, von denen an dieser Stelle diejenigen zu Ostmitteleuropa näher vorgestellt werden. Die Herausgeber gehen von der Grundannahme aus, dass das heutige Bild nationalsozialistischer Täter noch immer von Pauschalisierungen geprägt ist, und lenken den Blick auf die in der Forschung bisher weitgehend vernachlässigte Tätergruppe der KZ-Aufseherinnen und -Aufseher, um mittels differenzierter historischer Ausarbeitungen die vagen und generalisierenden Vorstellungen über diese Tätergruppe aufzubrechen.
In den Beiträgen stehen - im Anschluss an den einführenden Aufsatz von Michael Wildt, der die zurückliegende NS-Täterforschung in übersichtlicher Weise nachvollzieht - die individuellen Karriereverläufe der Aufseherinnen und Aufseher im Mittelpunkt, um anhand der alltäglichen Aufgaben in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Rückschlüsse zu ziehen auf "die Menschen, die die Gefangenen bewachten, die Mordbefehle ausführten oder auch aus eigener Initiative töteten" (8). Marc Buggeln widmet sich der weltanschaulichen Schulung der KZ-Wachmannschaften in den letzten Kriegsmonaten am Beispiel des "Nachrichtendienstes für die SS-Männer und Aufseherinnen in den Außenkommandos" im Konzentrationslager Stutthof. Die heterogene Zusammensetzung des Wachpersonals machte, so Brownings Argumentation, eine gezielte ideologische Schulung erforderlich, die mithilfe des Nachrichtendienstes erzielt werden sollte. Das Blatt befasste sich unter anderem mit lagerspezifischen Themen sowie mit Gerüchten, an deren Widerlegung der SS gelegen war. Meldungen betrafen vor allem die Rüstungsproduktion und Ankündigungen von "Wunderwaffen", ohne auf den aktuellen Kriegs- und Frontverlauf einzugehen. "Der SS ging es", so die Argumentation des Verfassers, "auch weniger um aktuelle Nachrichten, als um deren richtige weltanschauliche Einbettung, die ihr ob der heterogenen Wachmannschaften höchst zweifelhaft erschien" (177). Ferner thematisierte das Nachrichtenblatt Gräueltaten sowjetischer Soldaten in Ostpreußen und das "brutale" Vorgehen der Westalliierten beim Vordringen auf deutsches Gebiet. Wie der Verfasser resümiert, war es das zentrale Ziel des Blattes, "dafür zu sorgen, dass die Wachmannschaften ihren Dienst ordentlich erfüllten und die Hoffnung auf einen deutschen Sieg nicht völlig verlören" (183).
Den Arbeitsalltag im Krematorium des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek analysiert Elissa Mailänder anhand von Erinnerungen ehemaliger Aufseherinnen. Im Fokus steht das Scherzverhalten unter Kolleginnen und Kollegen sowie die Frage nach der Rolle von Gewalt in den sozialen Beziehungen innerhalb der Lager-SS. "Gerade in dieser Nahsicht auf den Arbeitsalltag und das Neckverhalten", akzentuiert die Verfasserin, "zeigt sich die Verwobenheit von Arbeit und Freizeit, von Vernichtung und Geselligkeit. Denn massive Gewalttätigkeit bedeutet nicht das Suspendieren von Alltag, vielmehr entfaltet sich auch im Ausnahmezustand - am Arbeitsplatz Konzentrationslager - und in der täglichen Gewaltpraxis eine eigene Form von Alltäglichkeit, die es zu ergründen und hinterfragen gilt" (185). Zwar waren die Aufseherinnen nicht direkt an der Tötungsarbeit beteiligt, doch leisteten sie wichtige Zuarbeit, indem sie bei der Selektion und bei Arbeiten im Häftlingsbad, das als Gaskammer diente, eingesetzt wurden. Auf das, was sie dabei beobachten mussten, reagierten sie mit "Galgenhumor". Dieser war, so das Fazit der Verfasserin, zum einen das Produkt ihrer vom alltäglichen Massenmord geprägten Umgebung, diente aber zugleich als Möglichkeit, sich mit ihrem Arbeitsumfeld zu arrangieren.
Angelika Benz widmet sich in ihrem Beitrag der Rolle der im SS-Lager Trawniki ausgebildeten Aufseher im nationalsozialistischen Vernichtungssystem. Die Männer, die insgesamt 26 Nationalitäten angehörten, fungierten als Hilfseinheiten der SS bei der Bewachung von Objekten, nahmen an Mordaktionen gegen zahlreiche Ghettos teil und wurden bei der Bewachung von Konzentrations- und Vernichtungslagern eingesetzt. Oft werden sie pauschal als "brutale Helfer der SS" oder "Ukrainer" bezeichnet. Obwohl sie bei den nationalsozialistischen Massenmorden eine zentrale Rolle spielten, fanden sie erst in jüngster Zeit Eingang in die historische Forschung. Ihre Geschichte und ihre individuellen Lebensläufe zeigten auf eindrucksvolle Weise, "wie Opfer zu Tätern werden können" (159). Nach dem Krieg gelang vielen von ihnen die Ausreise nach Amerika oder die Rückkehr in ihre Heimat, wo jedoch nur einzelne justiziell zur Verantwortung gezogen wurden. Am Beispiel des Prozesses gegen den ehemaligen Trawniki-Mann John Demjanjuk legt Benz Schwierigkeiten bei der justiziellen Ahndung von NS-Verbrechen offen. Der Beihilfe zum Mord in 27900 Fällen angeklagt, musste sich Demjanjuk von November 2009 bis Mai 2011 vor dem Münchener Landgericht verantworten. "Im Prozess", akzentuiert die Verfasserin, "griffen Anklage wie Verteidigung auf ein - jeweils anderes - pauschales Bild 'der Trawnikis' zurück und legten es ihrer Beweisführung zugrunde, ohne zuvor zu belegen, welchen Weg der hier vor Gericht Stehende genommen hatte oder hatte nehmen müssen" (164). Ferner spielte im Verfahren eine Rolle, dass das Gericht sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, einen NS-Verbrecher zu milde zu bestrafen, und dass der Massenmord an den europäischen Juden mit den damaligen gesetzlichen Grundlagen kaum zu fassen war. Was vom Prozess gegen Demjanjuk bleibt, so das Fazit der Autorin, sei die "nagende Gewissheit, dass auch dieser Prozess seinem Gegenstand nicht gerecht werden konnte" (169).
Der Sammelband ermöglicht einen sehr vielseitigen und multiperspektivischen Überblick über aktuelle Forschungsansätze der NS-Täterforschung. Zahlreiche Hintergrundinformationen zum System der Konzentrations- und Vernichtungslager, die in die einzelnen Aufsätze eingebettet sind, machen ihn - auch für ein weniger fachkundiges Publikum - zu einer sehr informativen und interessanten Lektüre. Zudem eröffnen Hinweise auf aktuelle Forschungslücken zahlreiche (Denk-)Ansätze für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und machen den Sammelband zu einem sehr wertvollen Beitrag innerhalb des historischen NS-Täterdiskurses.
Anmerkung:
[1] Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen, Reinbek 1993; Daniel J. Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.
Magdalena Fober