Cord Meckseper: Das Piano nobile. Eine abendländische Raumkategorie, Hildesheim: Olms 2012, 398 S., 60 s/w-Abb., ISBN 978-3-487-14742-0, EUR 49,80
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Bereits in der Einleitung seiner Untersuchung macht Meckseper deutlich, dass er nicht nur die Genese des Piano nobile behandeln will. Vielmehr will die Studie ein Architekturverständnis belegen, demnach Architektur nicht nur der Spiegel einer Gesellschaft sei, sondern "elementares Gestaltungsmittel menschlichen Daseins eigenen Rechts" (8). Angekündigt wird also eine Studie zu einer konkreten architekturhistorischen Fragestellung, die zudem gleichsam als Leinwand einer grundlegenden Architekturanschauung dient. Dieser Ansatz wird nachvollziehbar, wenn der Autor auf seine mehr als 40 Jahre lang andauernde Beschäftigung mit dem Thema verweist. [1]
Der übersichtliche Aufbau des Bandes in acht Kapiteln erfolgt weitgehend chronologisch von der römischen Antike bis in die Neuzeit mit einem Ausblick in die Gegenwart. In der Einführung (9-21) wird das Piano nobile gebäudetypologisch definiert: "Das Piano nobile ist innerhalb eines räumlich-funktionalen Gesamtsystems eine Raumebene, die über einer vollwertig in Erscheinung tretenden Erdgeschossebene liegt und im Rahmen einer eingeschränkten Öffentlichkeit durchgeführten, primär durch offizielle Verpflichtungen eines Machtträgers bedingten Handlungen dient." (16) Methodisch kündigt Meckseper ausgehend von der Annahme, das Piano nobile sei eine vertikalhierarchische Architektur, die Untersuchung vertikalräumlich strukturierter Baulösungen im Profan- und Sakralbau an. Die topografischen Abgrenzungen erfolgen dabei sinnigerweise epochenspezifisch gemäß den jeweils zusammenhängenden und sich beeinflussenden Territorien. Berücksichtigt werden archäologische Befunde, Schriftquellen, anthropologische und soziologische Theorien. Die daraus resultierende Materialmenge stellt eine stärkere Herausforderung dar als die Disziplingrenzen, die Meckseper als wichtige Ursache für die bisher unterbliebene grundlegende Untersuchung des Piano nobile ausmacht (7).
Die römischen Raumsysteme untersucht Meckseper im zweiten Kapitel (23-51). In ihrer komplexen Horizontalhierarchie, die Status und Abhängigkeit durch Nähe und Ferne visualisiert, findet der Autor keinen Vorläufer für das Piano nobile. Die "Gebäudetypologische Vielfalt" der Spätantike (53-106) bildet für Meckseper zwar die Voraussetzungen für neue Systeme und Typologien, Entwicklungstendenz vermag er jedoch nicht abzuleiten (60). Im Solarium und Cenaculum meint er allerdings typengeschichtlich zum Piano nobile hinführende Elemente zu erkennen (78). Auch im Frühmittelalter (107-149) kann der Autor nur derartige Einzelbeispiele ausmachen. Ergiebig sei insbesondere die karolingische Architektur mit ihrer Erneuerung des Solarium-Begriffes - für Meckseper eine zentrale Kategorie in der Genese des Piano nobile (130).
Eingeschoben wird an dieser Stelle das fünfte Kapitel zur "Vertikalhierarchie in Bild und Metaphorik" (151-174). Bereits im zweiten Kapitel fiel Meckseper auf, dass sich in der römischen Antike vertikalhierarchische sprachliche Formulierungen und horizontalhierarchische Raumstrukturen gegenüberstehen. Auch in römischen Bildsystemen, Weltmodellen und Raumvorstellungen findet er vertikale Hierarchisierungen. Daher fragt er nach deren Einfluss auf die Architektur (154-156). Das Kapitel mündet in die Schlüsselfrage "Wäre also Architektur von mental strikt vertikalhierarchischer Raumvorstellung und Raummetaphorik abzukoppeln, Architektur also nicht ein 'Spiegel' der Gesellschaft?" (170) Architektur, so scheint sich Mecksepers These zu bestätigen, kann sich gesellschaftlichen Denkmodellen gegenüber eigenständig verhalten.
Erst in der mittelalterlichen Adelsburg (175-203) manifestieren sich für Meckseper die eigentlichen "Anfänge des Piano nobile". Mit der verteidigungs- und kontrollbedingten Höhenlage finde nun eine "Vertikalverschiebung des Herrensitzes" statt (176), die seit dem 11. Jahrhundert auch außerhalb von Burgen festzustellen sei (192). In Bauten wie dem Donjon von Loches und dem Salischen Kaiserhaus von Goslar sieht der Autor das Piano nobile erfüllt. Vom Hoch- und Spätmittelalter bis hin zum Barock (205-251) erfahre es seine "weitere Ausformulierung", mit den barocken Treppenhäusern und der Inszenierung des Aufstieges seine Vollendung (205). Hier macht der Autor eine Verselbstständigung des Piano nobile als "unverzichtbare Ausdrucksform von Herrschaft" (227) unabhängig vom fortifikatorischen Aspekt aus. Mit Ausblicken auf Bauaufgaben seit dem 19. Jahrhundert wie bürgerliche Wohnhäuser oder Bürobauten schließt Meckseper die Bestandsaufnahme ab.
Im abschließenden Kapitel (253-304) fragt er nach Gründen für das Piano nobile. Anstelle programmatischer Intentionen oder veränderter zeremonieller Anforderungen vermutet Meckseper anthropologische Konstanten. Im Menschen vorhandene Anlagen seien, ausgelöst durch eine historische Notwendigkeit der Verteidigung, regional, d.h. im "Abendland", als Piano nobile zum Ausdruck gebracht worden. Es sei lediglich die "beiläufige Folge eines Sicherungsvorganges" (287). Dennoch findet Meckseper auch eine Funktion, die interessanter Weise sein Bemühen um die Vertikalhierarchie obsolet erscheinen lässt: "Die Funktion des Piano nobile beruhte nicht auf seiner räumlichen Eigenschaft als qualitativ höhere Ebene über einer unteren im Sinn eines vertikal geschichteten 'Oben und Unten', sondern auf der horizontalen Wirkung seiner 'Höhe' gegenüber einer außenstehenden Allgemeinheit" (292).
In Anbetracht des weitläufigen Themas wird deutlich, dass Mecksepers Studie unterschiedliche Forschungsfelder verschiedener Disziplinen berührt und somit in vielfältigen Kontexten steht. Die Zeremonialforschung, die in repräsentativer Architektur häufig ein "gebautes Zeremoniell" sieht, erhält durch Mecksepers Ansatz, der der Architekturikonologie nicht sehr geneigt zu sein scheint, einen Gegenpol. Vertreter funktionaler Ansätze werden mit dem Zufall konfrontiert. Residenz- und Burgenforschern öffnet sich ein epochenübergreifender Einblick. Detailstudien zu teils bereits in der Forschung thematisierten Aspekten wie der Treppe, der Fassade und dem Baudekor des Piano nobile oder repräsentativen Elementen wie der Loggia können das Bild sicherlich konkretisieren, ergänzen oder verändern. Für Forschungen zu diesen und weiteren Themen erstellt Mecksepers Studie einen wichtigen Einstieg in die Thematik.
Bedeutsam für diesen ist Mecksepers stets kritische Analyse von Quellen, Befunden und Literatur. Hervorzuheben ist dabei sein souveräner Umgang mit archäologischen und philologischen Techniken und Quellen. Bei Überlieferungs- und Befundlücken, die insbesondere die Spätantike und das Frühmittelalter betreffen, kann der Autor freilich nur Mutmaßungen anstellen. Belege für einzelne Entwicklungsstufen gelingen entsprechend nicht immer. Die Genese daraus resultierender Annahmen stellt der Autor leider selten dar, verwendet ebendiese Annahmen dann jedoch im Folgekapitel. Hier hätte sich die Rezensentin Zwischenresümees gewünscht. Die Quintessenz von Mecksepers Studie, nach der das Piano nobile eine zufällige Folge von Verteidigung und infolgedessen eine hochgestellte Horizontalarchitektur darstelle, lässt Fragen aufkommen, die die Grundthesen des Autoren zur Diskussion stellen: Gibt es überhaupt eine Vertikalhierarchie im Piano nobile? Und: Ist der Zufall mit der Autonomie der Architektur vereinbar?
Entsprechend Mecksepers Architekturbegriff liegt die geringe Beachtung ikonologischer Aspekte auf der Hand. Zeremoniell und Ritual werden nur angeschnitten, obwohl etwa Raumfolgen und Zeremoniell im Barock essentiell miteinander verknüpft sind. Nicht zuletzt der Materialmenge wird geschuldet sein, dass auf die architektonische Ausstattung und Dekoration nicht intensiver eingegangen wurde. Meckseper entschied sich stattdessen für eine Auswahl an Fragestellungen aus den eingangs skizzierten Themen und erzielte beachtungswürdige Ergebnisse. Dabei besann sich der Autor auf seine Kompetenzen. Entsprechend seinem bisherigen Schaffen, das sich eher auf mittelalterliche Burgen statt neuzeitliche Schlösser konzentrierte, liegt sein Augenmerk primär auf den Wurzeln des Piano nobile denn auf demjenigen des Barockschlosses. Das Problem des schier unendlichen Materials ist ferner zugleich auch die Stärke der Studie. Nur durch den epochenübergreifenden Ansatz erhält der Leser eine Gesamtübersicht. Zusammenfassend betrachtet liefert Meckseper einen spannenden Diskussionsbeitrag zum Selbstverständnis der Architektur und zur Raumorganisation sowie ein Kompendium zum Denkmälerbestand repräsentativer Handlungen dienender Raumebenen.
Anmerkung:
[1] Oben und Unten in der Architektur. Zur Entstehung einer abendländischen Raumkategorie, in: Hermann Hipp / Klaus von Beyme (Hgg.): Architektur als politische Kultur. philosophia practica, Berlin 1996, 37-52; Piano nobile - Beletage - Hauptgeschoss: verschiedene Bezeichnungen für dieselbe Sache?, in: architectura, Zeitschrift für Geschichte der Baukunst 34 (2004), 162-168; Das Piano nobile. Eine abendländische Raumkategorie, in: Jahrbuch der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 2009, 169-195.
Cordula Mauß