Stephan Geier: Schwellenmacht. Bonns heimliche Atomdiplomatie von Adenauer bis Schmidt, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013, 485 S., ISBN 978-3-506-77791-1, EUR 49,90
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Kernwaffen bestimmten nicht nur die Dynamik des Kalten Krieges und die Entstehung der Détente. Der immens teure Unterhalt der vielfältigen nuklearen Arsenale war auch mit ausschlaggebend für den wirtschaftlichen Niedergang der Sowjetunion. Nach dem vermeintlichen Ende des Ost-West-Konflikts blieb die Frage der Entsorgung eng gekoppelt mit jener nach der Nichtverbreitung von Kernwaffen - bis heute.
Die Bundesrepublik nahm während des Kalten Krieges eine Sonderrolle ein. Ihre strategische Lage an der Schnittstelle der Blöcke hätte sie bei einer Eskalation zum Schlachtfeld werden lassen. Zunächst offene Territorialfragen sowie die wirtschaftliche Bedeutung Westdeutschlands für Europa unterstrichen diese besondere Situation. Mit der Wiedervereinigung sind die deutschen Grenzen endgültig festgelegt. Durch die Osterweiterung der EU hat sich die strategische Lage verschoben. Doch nach wie vor nimmt Deutschland eine Schlüsselrolle ein - auch in nuklearen Fragen, wie die Teilnahme an den Atomgesprächen zwischen den Veto-Mächten der Vereinten Nationen und Iran belegt.
Trotz der exponierten Lage der Bundesrepublik und der zentralen Rolle von Kernwaffen für die Entwicklung des Ost-West-Konflikts wurden beide Aspekte bisher in der Literatur kaum behandelt. Zahlreiche Veröffentlichungen behandeln zwar die Nuklearstrategien in Ost und West, und die Geschichte der Bundesrepublik füllt ganze Bibliotheken. Die Frage nach der Rolle Westdeutschlands im Zusammenhang mit den Nuklearstrategien der Supermächte ist dagegen bisher kaum analysiert worden. Hauptsächlich im Rahmen des Nuclear History Programs erschienen seit den 1990er Jahren verschiedene Untersuchungen, die einzelne Aspekte der deutschen Atomwaffenpolitik beleuchten. [1]
Stephan Geier legt nun erstmals eine umfassende Darstellung der Bonner Atomdiplomatie von Adenauer bis Schmidt auf 485 Seiten mit einem umfangreichen Anhang vor. Ein präzises Glossar und ein ausführliches Personenregister sind dem Leser eine große Hilfe. Endnoten fördern zwar das optische Bild des Textes, zwingen den wissenschaftlichen Betrachter allerdings zu ständigem Blättern, auch wenn die übersichtliche Gliederung der Anmerkungen anhand von Seitenzahlen diesen Schritt enorm vereinfacht. Geiers Untersuchung ist chronologisch angelegt. Lediglich das Kapitel "Die Wandlung der Bundesrepublik zur Schwellenmacht" (95-137) bricht mit dieser Struktur, um diese wichtige Entwicklung in Westdeutschland zusammenhängend dazustellen.
Die Grundlage des Buches bilden Quellen aus diversen deutschen und amerikanischen Archiven (Bundesarchiv, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, National Archives und verschiedene Presidential Libraries). Die einschlägigen Dokumentensammlungen und Periodika werden um eine Vielzahl elektronischer Quellen erweitert. Aus der umfassenden Literaturliste stechen besonders Memoiren, Tagebücher und Lebenserinnerungen wichtiger Entscheidungsträger, darunter Adenauer, Ball, Brandt, Chruschtschow, Genscher, Kennan, Kissinger oder Spaak, hervor. Wünschenswert wäre freilich eine differenziertere Analyse der persönlichen Aufzeichnungen und ihrer subjektiven Betrachtungsweise gewesen. Die unter den Eindrücken des unfreiwilligen Machtwechsels in der UdSSR entstandenen Memoiren Chruschtschows lassen sich beispielsweise durch die jüngst von seinem Sohn verfasste, kritische Biographie verifizieren. [2] Auch Adenauers Erinnerungen müssen stellenweise kritisch hinterfragt werden. Geier ist dies z.B. bei Beschreibung der Verzichtserklärung von 1954 (35-43) durch die Einbindung von Quellen aus dem Auswärtigen Amt und dem Nachlass Walter Hallsteins sehr gut gelungen.
Im Zentrum des Buches steht der Nichtverbreitungsvertrag. Vor der Entstehungsgeschichte des Vertragswerks gibt Geier zunächst eine Einführung in die Geschichte der Kernenergie. Diese reicht von der Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn in der Zeit des Nationalsozialismus über den Bau der ersten Atombomben bis zur Freigabe der Kernforschung in Westdeutschland mit der Beendigung des Besatzungsstatuts. Nach einem weiteren, bis Mitte der 1950er Jahre reichenden Kapitel zu den verschiedenen europäischen Ansätzen für eine Kontrolle der neuen Energieform konzentriert sich Geier auf die Bundesrepublik und ihre Interessen. Neben den außen- und sicherheitspolitischen Überlegungen geht der Autor dabei auch auf die technische Weiterentwicklung des Anreicherungsverfahrens mittels Gaszentrifugen ein (117-128). Dieser Abschnitt steht stellvertretend für die deutsche Atomindustrie, die auch damals international konkurrenzfähig war. Die auf Sekundärliteratur basierenden Ausführungen hätten hier durch inzwischen im Konzernarchiv der Evonik Industries AG, dem Nachfolgeunternehmen der Degussa, zugängliche Quellen vertieft werden können. Zudem wird die Frage nach "Atombomben für die Bundesrepublik" (106-110) zu sehr vereinfacht. Neueste Untersuchungen belegen, dass neben den erwiesenen Optionen auf deutsche Mitverfügung im Rahmen multilateraler Einheiten wie der MLF oder der Beteiligung an der Nuclear Planning Group der NATO auch nationale Bestrebungen realisierbar gewesen wären. [3] In den folgenden Kapiteln schildert Geier die Entstehung des Nichtverbreitungsvertrages und erfasst dabei gekonnt neben den multinationalen Gesprächen auch parallel verlaufende, teils inoffizielle bilaterale Verhandlungen. Zudem bezieht der Autor auch wirtschaftliche und technische Aspekte wie deutsche Exporte (318-326) oder den ersten indischen Atomtest (311-313) in seine Untersuchung ein. Der Fokus liegt dabei stets auf den Überlegungen und Taktiken aller Bundesregierungen zum Erhalt einer nuklearen Option - selbst nach der lange verzögerten Unterzeichnung des Nichtverbreitungsvertrages. Geier zeigt auf, dass auch danach die Fragen nach "Kontrollen und Verifikation" (296-307) ebenso weiter diskutiert wurden wie "Riskante Geschäfte: Exporte und Proliferation 1974-1977" (307-353). Im Schlusskapitel schildert er die spannende Episode der "Konfrontation mit Washington" (353-385). Dabei behandelt er sowohl die Strategien Helmut Schmidts und Jimmy Carters als auch die Diskussionen um deutsche Nuklearexporte nach Brasilien, Südafrika und Libyen.
Insgesamt handelt es sich um eine sehr gelungene, gewinnbringende Analyse, die einen bisher kaum untersuchten, aber umso wichtigeren Teil deutscher Außen- und Sicherheitspolitik aufarbeitet. Der mit rund vierzig Jahren sehr lange Untersuchungszeitraum bietet nicht nur Einblicke in die Überlegungen von fünf Bundeskanzlern und ihren Ministern, sondern erläutert zudem technischen Grundlagen und Forschungen, die bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurück reichen. Der naturwissenschaftliche Hintergrund des in Physik promovierten Autors erweist sich bei diesen auch physikalischen Laien verständlichen Ausführungen von Vorteil. Zudem ermöglichen die Vielzahl ausländischer Quellen und Literatur eine internationale Perspektive auf die deutsche Politik, die leider viele Untersuchungen sonst vermissen lassen.
Anmerkungen:
[1] Das Nuclear History Program trug für die Geschichte der Atomwaffenpolitik relevante, teils extra für das Projekt deklassifizierte Dokumente zusammen und führte Zeitzeugengespräche zum Thema. Die Unterlagen der deutschen Projektgruppe liegen in der Bibliothek des Instituts für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Die Verantwortlichen möchten sie zum Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften nach Potsdam auslagern. Die Sammlung der amerikanischen Gruppe befindet sich im National Security Archive an der George Washington University in Washington.
[2] Sergei Khrushchev: Memoirs of Nikita Khrushchev. Vol. 1 (2005): The Commissar, 1918-1945, Vol. 2 (2006): Reformer, 1945-1964 und Vol. 3 (2007): Statesman, 1953-1964, Pennsylvania.
[3] Michael Knoll: Atomare Optionen. Westdeutsche Kernwaffenpolitik in der Ära Adenauer, Frankfurt am Main 2013.
Michael Knoll