Susanne Conzen / Gesine Möller / Eckhard Trox (Hgg.): Ida Gerhardi. Deutsche Künstlerinnen in Paris um 1900, München: Hirmer 2012, 252 S., 6 s/w-, 68 Farbtafeln, 29 s/w-, 38 Farbabb., ISBN 978-3-7774-4791-9, EUR 39,90
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Anlässlich diverser Jubiläen sind in den letzten Jahren wiederholt Publikationen über Kunst und Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen. [1] Dabei stand Paris als Wirkungsstätte im Fokus, das Italien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als europäische Kunstmetropole abgelöst hatte: Hier war nicht nur Sitz der "weltweit wichtigsten Galerien" und "Austragungsort bedeutender Ausstellungen" (148), sondern den Künstlern wurden mit den freien Akademien Julien und Colarossi auch bessere Studienmöglichkeiten geboten (23, 148).
Mit dem vorliegenden Ausstellungskatalog der Städtischen Galerie Lüdenscheid, der 2012 zum 150. Geburtstag der Künstlerin Ida Gerhardi erschienen ist, wurden nun auch die Frauen der künstlerischen Avantgarde gewürdigt. Die 1862 in Hagen geborene Gerhardi studierte und arbeitete zwischen 1891 und 1912 in Paris. Ab 1900 stellte sie ferner in Berlin aus, denn es war "unverzichtbar, den Kontakt zum eigenen Land zu halten, [...] da nur wenige französische Sammler und Händler" die Werke deutscher Künstler/-innen vertrieben (85). Nach einer chronischen Atemwegserkrankung verließ sie 1915 Paris und lebte fortan bis zu ihrem Tod 1927 in Lüdenscheid (242f.).
Die Publikation beinhaltet neben einer hervorragenden Bebilderung mit Dokumentarfotografien und Gemäldereproduktionen 12 kluge Essays, die sich schwerpunktmäßig dem künstlerischen Werdegang und kollegialen Netzwerk Ida Gerhardis widmen. Untersucht werden ihre Beziehungen zu den Künstlerkreisen des legendären Café du Dôme (147-166) sowie ihre Ausflüge in Tanzlokale und sogenannte "Apachenkneipen", die Gerhardi - oft begleitet von Käthe Kollwitz - auf der Suche nach Studienobjekten frequentierte. Letztere inspirierten sie zu umfangreichen Gemäldeserien, die bislang "nur in Ansätzen bekannt" waren und sich im vorliegenden Katalog erstmals "beinahe lückenlos [...] neu erfassen und wissenschaftlich bearbeiten" ließen (189). Auch Gerhardis Beziehungen zu den wichtigsten Galeristen, Museumsdirektoren und Mäzenen ihrer Zeit werden ausführlich dargelegt: zum Kunstsalon Gurlitt und zur Galerie Eduard Schulte in Berlin (78ff.), zu Karl Ernst Osthaus und seinem Museum Folkwang in Hagen (38, 205ff.), zu Hugo von Tschudi, dem Direktor der Berliner Nationalgalerie (41, 223ff.), und zu Eduard Arnhold, dem wichtigsten Unternehmer der Weimarer Republik (223ff.). Erforscht wurden ferner ihre Ausbildung an der Münchener Damen-Akademie (68) und an der Pariser Akademie Colarossi (23ff., 49ff.), ihre Lehrtätigkeit (167ff.) und ihre Rolle als Kunstagentin (156ff., 208ff., 443).
Ein wesentliches Forschungsergebnis ist, dass das Klischee von kunsthistorisch irrelevant gebliebenen Frauen vor allem auf zwei Gründen basiert:
1) Auf der schlechten Ausbildungslage: Frauen blieben die staatlichen Kunstakademien in Deutschland bis 1919 verschlossen (7). [2] So war es "[...] vornehmlich der Wunsch nach einer an den staatlichen Kunstakademien orientierten, anerkannten Lehrmethode, der Künstlerinnen auf dem Weg der Professionalisierung [...] [am tradierten Aktzeichnen nach lebendem Modell] festhalten ließ, während sich männliche Kollegen paradoxerweise zeitgleich zunehmend vom klassischen Akademiebetrieb lösen." (24) Letztere arbeiteten zu diesem Zeitpunkt längst expressionistisch, frei von akademischen Konventionen.
2) Auf dem altbackenen Kunstgeschmack von Kaiser Wilhelm II., der die deutsche Kunstszene dominierte. Unter anderem verweigerte er Käthe Kollwitz die Goldmedaille für ihren Grafikzyklus Ein Weberaufstand, den er als 'Rinnsteinkunst' beurteilte (74).
Ida Gerhardi widmete sich vorrangig der Porträtkunst. Dies begründete sich aber nicht in ihrer Vorliebe, die der Landschaftsmalerei galt (26), sondern im Ökonomischen: "Mit der Entscheidung für das Porträtfach verfolgte sie als alleinstehende Frau stringent das Ziel, mit der Malerei ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können" (29), denn die "wichtigste Auftraggeberschicht blieb aus pekuniären Gründen das gehobene Bürgertum" (31). Außerdem konnte sie nur so auch diesen Beruf mit seinen bohemehaften Zügen gegenüber der Gesellschaft rechtfertigen. Ein gutes Beispiel hierfür liefert ihr "Selbstbildnis IV" von 1907 (LWL - Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster), in dem sie laut Katalog "ihre Existenz als freie Malerin [...] in Einklang bringen [wollte] mit bürgerlichem Ansehen und Anerkennung" (45).
Künstlerinnen blieb demnach nichts anderes übrig, als sich gegenseitig durch Landesgrenzen überschreitende Netzwerke zu stützen (38ff., 49ff., 65ff.) und sich, wie Ida Gerhardi, als Auftragsmalerinnen ihren Lebensunterhalt zu verdienen (156). Dass sie dabei kaum im Schatten ihrer männlichen Kollegen standen, belegen Ida Gerhardis Kontakte nicht nur zu den wichtigsten und einflussreichsten Kunstsammlern und Mäzenen, sondern auch zu den berühmtesten Künstlern ihrer Zeit. So hatte sie beispielsweise brieflich überlieferten Kontakt zu Auguste Rodin (137ff.), mit dem sie Osthaus persönlich bekannt gemacht hat (210), aber auch zu Maurice Denis, Aristide Maillol und Henri Matisse, bei denen sie ihre Schülerin Annemarie Kruse eingeführt hat (175).
Als kleine Schwäche einzelner Essays mag gelten, dass sie die Beziehung zwischen Ida Gerhardi und den exemplarisch untersuchten Künstlerinnen erst abschließend erläutern (80, 88, 100), was das Verständnis der Zusammenhänge erschwert. Dem gegenüber steht als besondere Stärke der Publikation die Basis umfangreicher Quellenstudien. Ausgewertet wurden neben zahlreichen Dokumentarfotografien beispielweise "ein wiederentdecktes Konvolut von Briefen, die Gerhardi an Karl Ernst Osthaus schrieb" (156, 207), sowie weitere "Briefe und Tagebücher" von Künstlerinnen, "in denen [...] der fruchtbare kollegiale Austausch dokumentiert ist und dadurch die Bedingungen ihres Werdegangs nachvollziehen lässt" (91). Damit repräsentiert die vorliegende Publikation den aktuellen Forschungsstand zu ihrem Thema mustergültig.
Insgesamt zeichnet der Ausstellungskatalog ein neues, lebendiges und umfassendes Bild von der Situation bildender Künstlerinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine Lektüre ist uneingeschränkt empfehlenswert.
Anmerkungen:
[1] Marion Bornscheuer (Hg.): Ausstellungskatalog "100 Jahre Kniende. Lehmbruck in Paris" [LehmbruckMuseum, Duisburg, 24.9.11-22.1.12], Duisburg / Köln 2011; Barbara Schaefer (Hg.): Ausstellungskatalog "1912. Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes" [Wallraf-Richartz-Museum, 31.8.-30.13.12], Köln 2012; Marilyn Satin Kushner / Kimberly Orcutt (Hgg.): Ausstellungskatalog "The Armory Show at 100. Modernism and Revolution" [New York Historical Society, 11.10.13-23.2.14], New York / London 2013.
[2] In Paris wurde Frauen schon 1896 der Zugang zur École Nationale des Beaux-Arts gewährt (171).
Marion Bornscheuer