Ilko-Sascha Kowalczuk: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR (= Beck'sche Reihe; 6026), München: C.H.Beck 2013, 428 S., 34 Abb., ISBN 978-3-406-63838-1, EUR 17,95
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Im Rahmen der seit Anfang der 1990er Jahre aufblühenden DDR-Forschung bilden Untersuchungen zu politischer Verfolgung, Repression und widerständigem Verhalten noch immer einen deutlichen Schwerpunkt. Die Konzentration auf die Mechanismen und Instrumente zur Durchsetzung des Machtanspruchs der SED und die damit verbundene staatliche Willkür resultierte aus dem Interesse an einem gesellschaftlichen Teilbereich, in dem der Totalitätsanspruch des Staates, seine politischen Steuerungsabsichten sowie die daraus folgenden politischen und ideologischen Indoktrinationen besonders markant in Erscheinung traten. Zumeist steht das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn die totalitären Herrschaftsansprüche der Staatspartei und die Wirkungsbedingungen einer kommunistischen Diktatur untersucht werden. Wird nach den Merkmalen diktatorischer Herrschaft in der DDR gefragt, kommt zwar der Begriff der SED-Diktatur sehr häufig vor, doch spielt die Staatspartei selbst, so wie auch in dem vorliegenden Band, nur eine untergeordnete Rolle. Obwohl Ilko-Sascha Kowalczuk einräumt, dass sich die Geschichte der SED-Diktatur nicht auf ihre Unterdrückungsapparate reduzieren lässt und er stets die Rolle des MfS als "Schild und Schwert" der Partei betont, folgt er mit seiner Fokussierung auf die Geheimpolizei doch dem bislang dominierenden Deutungsmuster.
Kowalczuk spannt den zeitlichen Bogen seiner Darstellung von der Gründungsgeschichte während der sowjetischen Besatzungsherrschaft 1945/49 bis zur offiziellen Auflösung des MfS im Juni 1990. Er will jedoch keine umfassende Geschichte des Staatssicherheitsdienstes der DDR mit all seinen Binnenstrukturen und strategischen Planspielen präsentieren, sondern das MfS als Teil der DDR-Gesellschaft historisch verorten und legt daher Wert auf den Begriff Geheimpolizei. Im Unterschied zu vielen anderen Darstellungen erhebt er den Anspruch, die Praxis und die Wirkmächtigkeit der operativen Aktionen des MfS zu untersuchen. Dies veranschaulicht er an ausgewählten Fallbeispielen, die er für verallgemeinerbar hält. So steht für ihn die Karriere des LDP-Vorsitzenden und Ministers für Handel und Versorgung Karl Hamann exemplarisch für die Verfolgung und Ausschaltung liberaler Denkansätze im politischen Leben der DDR. Im Dezember 1952 wurde Hamann unter der Anschuldigung verhaftet, die Versorgung der Bevölkerung systematisch sabotiert zu haben. Kowalczuk schildert die mehr als zweijährige Untersuchungshaft im Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen, in denen Hamann psychischer und physischer Folter ausgesetzt war. Der frühere LDP-Vorsitzende wurde im Juli 1954 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, dann im Oktober 1956 begnadigt und aus der Haft entlassen. Alles in allem wird Hamann als Opfer einer totalitären Politik präsentiert, die er selbst mit zu verantworten hatte. Denn Hamann habe als LDP-Vorsitzender seit 1948 maßgeblich mit dazu beigetragen, die liberale Partei in ein willfähriges Instrument kommunistischer Machtpolitik zu verwandeln.
Auch für die späteren Jahrzehnte rückt das Buch Fallschilderungen über die Verfolgung von Oppositionellen in den Mittelpunkt, so etwa prominente Repräsentanten der neuen Oppositionsgruppen in den 1980er Jahren. Die Darstellung bietet damit eine informative Übersicht über weitgehend bekannte, jedoch signifikante Vorgänge aus der Geschichte staatlicher Repression. Hier wird einmal mehr deutlich, wie das MfS in seiner klassischen Rolle als Unterdrückungsapparat im "Schlepptau der SED" (16) funktionierte. Dabei gelingt es dem Autor, klischeehafte Gewissheiten zu hinterfragen, so etwa, wenn die bislang kursierenden Zahlen über die Post- und Telefonüberwachung angezweifelt werden.
Mediales Echo hat Kowalczuk mit seinen zugespitzten Überlegungen zur Neubewertung der Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS erzeugt. Seine Mutmaßung, die in der Forschungsliteratur kursierende IM-Statistik müsse deutlich nach unten korrigiert werden, brachte ihm Widerspruch sowie ungerechtfertigte Unterstellungen ein. Inoffizielle Mitarbeiter, so seine These, hätten im Herrschafts- und Unterdrückungsapparat "im Regelfall eine spezifische, punktuelle und temporäre Rolle" gespielt, "mehr aber oft auch nicht" (236). Ungeachtet des unproduktiven Streits über Statistiken und Zahlen, können seine Einwände zum Anlass genommen werden, über die tatsächliche Reichweite und Wirkung des IM-Netzes für verschiedene Gesellschaftsbereiche im Rahmen künftiger Forschungen neu nachzudenken.
Kowalczuk plädiert also für einen neuen wissenschaftlichen Zugriff auf das MfS, da es aus seiner Sicht noch nicht gelungen ist, die Geschichte der Stasi einer wissenschaftlichen Historisierung zu unterziehen. Angedeutet wird der angestrebte "Paradigmenwechsel" am Kapitel über die hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter. Hier schildert Kowalczuk Beispiele für deren Anwerbung und spätere Karriereverläufe. Er kann dabei auch die familiäre Verflechtung von Partei- und MfS-Apparat aufzeigen. Fraglich ist indes, ob dieser methodische Ansatz in der Forschung über das MfS so neu ist, wie dies suggeriert wird. So hat bereits Jens Gieseke nachgewiesen, unter welchen Schwierigkeiten sich der Aufbau einer Geheimpolizei aus den Reihen der überlebenden deutschen Kommunisten in den Anfangsjahren vollzog und wie sich in den folgenden Jahrzehnten ein eigenständiges Milieu unter den Angehörigen des Staatssicherheitsdienstes sowie eine Kultur der materiellen Selbstprivilegierung herausbildete. [1] Notwendig wäre es hingegen, tiefere Einblicke in die Lebenswelt der hauptamtlichen Mitarbeiter zu gewinnen. Damit könnte sich das Versprechen einlösen lassen, das MfS als Teil einer Gesellschaftsgeschichte zu präsentieren. Da sich in dieser Hinsicht die Quellenlage in den letzten Jahren anscheinend nicht wesentlich verbessert hat, beschränkt sich Kowalczuk auf Aussagen zum Selbstverständnis des MfS, Hinweise auf Arbeits- und Lebensumstände der MfS-Mitarbeiter und aktenkundige Disziplinarfälle, die das idealtypische Bild eines "Tschekisten" arg trübten.
Es werden wohl noch einige methodische Überlegungen nötig sein, um den angekündigten "Paradigmenwechsel", die Geschichte des MfS als Teil einer DDR-Gesellschaftsgeschichte zu schreiben, tatsächlich realisieren zu können. Mit seiner Intention, über eine verengte Apparat- und Institutionengeschichte hinauszugehen und sich stärker mit der Wirkungsgeschichte staatlicher Repression zu beschäftigen, verweist Kowalczuk auf bedenkenswerte Forschungsperspektiven. Den in der Einleitung geweckten Erwartungen konnte er in diesem Buch jedoch nur teilweise gerecht werden.
Festzuhalten bleibt, dass Kowalczuk eine noch immer notwendige Debatte um Chancen und Grenzen einer Historisierung und Entmystifizierung der DDR-Staatssicherheit angeregt hat. Zudem hat er zu Recht auf die bislang viel zu wenig genutzten Möglichkeiten verwiesen, die die überlieferten Unterlagen der Staatssicherheit für kultur-, mentalitäts-, alltags- oder gesellschaftshistorische Untersuchungen bieten. Insofern kann das Buch auch als Plädoyer verstanden werden, die Stasi-Akten als archivalische Quelle für neue Ansätze und Perspektiven für die DDR-Forschung zu nutzen.
Anmerkung:
[1] Jens Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950-1989/90, Berlin 2000.
Andreas Malycha