Katja Hoffmann: Ausstellungen als Wissensordnungen. Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11 (= Image; Bd. 35), Bielefeld: transcript 2013, 497 S., ISBN 978-3-8376-2020-7, EUR 39,80
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Die Innovationleistungen der Documenta 11 im Jahr 2002 stehen im Zentrum von Katja Hoffmanns materialreicher Dissertation. Ihrer These zufolge stellte die Ausstellung "einerseits mit [ihrer] Ausstellungsinszenierung kanonische Ordnungen des westlichen Kunstbetriebs infrage ebenso wie [sie] mit dem dominanten Einsatz fotografischer und damit referentieller Bildmedien einen modernistischen und damit zugleich autonomen Kunstbegriff überformte" (14), um "dem Wissen über Kunst - und Bilder - konkreter nachzugehen und nach der Konstitution eines zeitgenössischen Kunstbegriffs zu fragen" (ebd.). Dem ist zunächst wenig entgegenzusetzen, gilt die Ausstellung doch als erste postkoloniale Documenta, nicht zuletzt durch die Programmatik des ersten nicht-europäischen Kurators Okwui Enwezor.
Die Verfasserin kreist ihren Gegenstand geschickt ein, indem sie drei komplementäre Blickwinkel miteinander verzahnt. Im ersten Teil referiert sie die Documenta-Geschichte, um historische und kunsttheoretische Voraussetzungen zu klären, auf die Enwezor reagiert hat. Als Vergleichsrahmen dient Hoffmann primär Werner Haftmanns Diktum der "Abstraktion als Weltsprache", das als Leitlinie der ersten drei Kasseler Ausstellungen verbindlich wurde. In der umfangreichen Präsenz referentieller, d.h. fotografisch basierter Bildmedien sieht die Autorin einen wichtigen Ansatz zur Revision eines modernistischen Kunstverständnisses im Sinne Haftmanns.
Der zweite Block konzentriert sich auf die Documenta 11 als Ausstellungsdispositiv und fokussiert folglich ihre "Space Syntax" (180-183). Mit einer ausführlichen quantitativen Analyse veranschaulicht die Autorin, dass de facto vorrangig "kanonisierte" männliche Künstler aus dem westlichen Kunstbetrieb präsentiert wurden (vgl. 135-153, 455-491). Qualitativ habe man diese Asymmetrie durch eine exponierte Platzierung nicht-westlicher Künstler/innen kompensiert sowie durch eine polyvalente labyrinthische Verteilung der Werke, die das Publikum mit einem vielschichtigen Beziehungsgeflecht konfrontiert haben anstatt es - wie 1955, 1959 und 1964 - auf eine lineare Entwicklungslogik einzuschwören. Zum Beweis zieht Hoffmann die zwölf ältesten Positionen heran, weil diese "als historische Marksteine fungierten" (156). Auf diese Weise gelingt es ihr, die sehr präsenten Werke vor allem von Chohreh Feyzdjou und Frédéric Bruly Bouabré zu den "kanonisierten" Künstler/innen in Beziehung zu setzen, sodass man die Ausstellungsdramaturgie als kritische Reflexion auf die westliche Kunsthistoriografie verstehen kann (vgl. 214). Dann geht die Verfasserin auf konzeptuell geprägte, historische Positionen von Hanne Darboven, On Kawara und den Bechers ein, die zum Teil an programmatischen Knotenpunkten wie der Rotunde des Fridericianums positioniert wurden. Dadurch werde die postkoloniale Perspektive um weniger beachtete, nichtsdestotrotz wichtige Reflexionsebenen bereichert: die Frage nach "medialen Repräsentationsmöglichkeiten von Wirklichkeit" (204), die Hinterfragung des Originalitätsbegriffs sowie das ungleiche Geschlechterverhältnis im Kunstbetrieb (vgl. 206-212).
Das letzte Kapitel über "Bild- und Bildlichkeitskonzepte" knüpft elegant an die vorigen Abschnitte an und analysiert minutiös drei jüngere fotografie- und filmbasierte Werke von Candida Höfer, Fiona Tan und Eija-Liisa Ahtila. Der Untersuchungsfokus liegt dabei auf der Kritik der drei Künstlerinnen an "Visualisierungsformen der massenmedialen Bildkultur" (236). Zum Beispiel hinterfrage Höfers Serie "Die Bürger von Calais" (2000/2001) die pseudo-objektiven Konventionen der kunsthistorischen Skulpturenfotografie und ferner die Praxis des vergleichenden Sehens, die einem formalistischen Kunstbegriff, wie er auf den ersten Documenta-Ausstellungen vertreten wurde, Vorschub leisten. In ähnlicher Weise deutet die Autorin die Installationen von Tan und Ahtila als Reflexionen auf die Prämissen der neusachlichen Fotografie und des klassischen Hollywood-Kinos. Damit kann sie nachweisen, dass zumindest einzelne Exponate dezidiert medienreflexiv sind und somit in Spannung zum transmedial-dokumentarisch ausgerichteten "Credo des universalen Realismus" stehen, dass Gregor Wedekind seinerzeit an Enwezors Konzept diagnostiziert hat. [1]
Mit Hoffmanns Dissertation liegt endlich eine ausführliche Studie zu einer einzigen Documenta vor. Ihre multiperspektivische Vorgehensweise bezieht Kunst-, Bild- und Medienwissenschaften ein und ist somit bestens geeignet, um die Vielschichtigkeit, aber auch die inneren Spannungen einer solchen Ausstellung zu diskutieren. Sie macht das Dispositiv Documenta 11 als "polykausales, höchst dynamisches Netz von Begründungszusammenhängen" (19) sinnfällig. Die Dynamik der Documenta-Geschichte zwischen Kontinuität und permanenter Neuerfindung wird ebenso nachvollziehbar wie die Kritik an der "Wissensordnung" der ersten Documenta-Ausstellungen durch die "Wissensordnung" von Enwezors Schau. Deren kritisches Potenzial scheint in seiner Vielgestaltigkeit auf, indem Hoffmann den postkolonialen Akzent nicht zu sehr dominieren lässt - man wünscht sich fast eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem durchaus umstrittenen Aspekt. Der unterstellten Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11 hätte die Verfasserin deshalb mit größerer Skepsis begegnen können.
Die Autorin präsentiert ihre Ergebnisse bewusst als Interpretationsmöglichkeiten, um einen Absolutheitsanspruch zu vermeiden. Das ist auch unumgänglich, weil sich natürlich weitere Reflexionsebenen der Documenta 11 denken lassen. Die Wahl der ersten Documenta als primäre Vergleichsfolie entpuppt sich freilich als Schwachpunkt. Sie garantiert zwar einen großen Kontrast der Kunstbegriffe, doch die Leistung Enwezors ließe sich im Rekurs auf die Documenta 5 und insbesondere auf die Documenta 10 nuancierter herauspräparieren. Mit Letzterer hat Catherine David ein kaum zu überschätzendes Fundament für die Documenta 11 gelegt, nicht zuletzt durch eine ausgiebige Einbeziehung "referentieller" Medien. Maßgebliche Aspekte der "Space Syntax" wie die strategische Bedeutung von Ausstellungsräumen bleiben erstaunlich unklar, etwa die nobilitierende Platzierung von Choreh Feyzdjous Installation in der Nähe des Fridericianums-Eingangs. Zur Konturierung wäre zudem ein systematischer Vergleich zwischen Enwezors Texten und der Ausstellungsrealisierung sinnvoll gewesen. Die Einzelanalysen sind überzeugend, zumal es Hoffmann gelingt, verschiedene Perspektiven dicht miteinander zu verweben, um zu einer kohärenten Gesamtperspektive zu gelangen. Jedoch wäre eine dezidiert nicht-westliche Position als Lackmustest für die Tragfähigkeit des Ausstellungskonzeptes sinnvoll gewesen. Interessant wären auch Überlegungen zu Werken, die sich schwer oder gar nicht mit Enwezors Ansatz vereinbaren lassen.
Insgesamt hat Katja Hoffmann eine umsichtige, schlüssige und zur Weiterführung inspirierende Studie vorgelegt, die der Documenta 11 neue Aspekte abgewinnt. Mehr Systematik und Pointiertheit sowie eine kritischere Haltung gegenüber ihrem Gegenstand hätten vermutlich für eine noch tiefere Durchdringung sorgen können.
Anmerkung:
[1] Vgl. Gregor Wedekind: Credo des universalen Realismus. Die Documenta 11 im Fokus der Ausstellungsgeschichte, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 201, 31.08.2002, 31.
Ralf Michael Fischer