Horst Förster / Julia Herzberg / Martin Zückert (Hgg.): Umweltgeschichte(n). Ostmitteleuropa von der Industrialisierung bis zum Postsozialismus (= Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum; Bd. 33), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, VI + 346 S., ISBN 978-3-525-37303-3, EUR 49,99
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Modernes Umweltbewusstsein scheint unhinterfragt eine Eigenart westlicher Gesellschaften zu sein. Umso wichtiger ist es, den Blick endlich einmal in den "wilden Osten" zu richten. Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Jahrestagung des Collegium Carolinum, die in Kooperation mit dem Rachel Carson Center for Environment and Society und der European Society for Environmental History im November 2010 stattfand. Mit der renommierten Forschungsstelle für die böhmischen Länder und zwei der wichtigsten wissenschaftlichen Institutionen für Umweltgeschichte waren ideale Voraussetzungen für die Bearbeitung einer Umweltgeschichte Ostmitteleuropas gegeben; und das Produkt, eine bunte Mischung aus zwölf deutsch- und fünf englischsprachigen Aufsätzen, spiegelt die thematische Bandbreite umwelthistorischer Forschung wider.
In ihrem einleitenden Beitrag präsentiert Julia Herzberg prägnant umweltgeschichtliche Forschungszugänge und diskutiert diese im Hinblick auf Ostmitteleuropa. Als Regionalgeschichte, die nicht unbedingt politisch-administrative Einheiten in den Mittelpunkt stellt, könne Umweltgeschichte den Menschen mit seiner "räumlichen Einheit" begreifbar machen (12f.). Bislang sei Umweltgeschichte in Ostmitteleuropa hauptsächlich als staatlich induzierte "Verschmutzungsgeschichte" des 20. Jahrhunderts verstanden worden. Eine Kritik des Staatssozialismus präge diese Niedergangsnarrative. Mit den Aufsätzen des Sammelbandes soll diese Perspektive differenziert und Ostmitteleuropa als eigenständiger Geschichtsraum aus dem monolithisch erscheinenden Ostblock herausgelöst werden. Dies gelingt leider nur partiell, da sich starke Anlehnungen an den sowjetischen Sozialismus als unvermeidlich herausstellen und die Konturen von Ostmitteleuropa unscharf bleiben. Insbesondere die Einbindung der DDR hinterlässt mehr Fragen als Antworten, zumal in den entsprechenden Studien kaum explizite Vergleiche zu anderen Ländern Ostmitteleuropas gezogen werden (vgl. 3). Auch Ostmitteleuropa als eine naturräumliche Einheit zu konstruieren, sei "mehr als umstritten" (16), gesteht Julia Herzberg zu. Vor diesem Hintergrund erscheint der gewählte Rahmen des Buches weiterhin erklärungsbedürftig, was nichts an den zumeist innovativen Ergebnissen der einzelnen Aufsätze ändert.
Im ersten Themenabschnitt zu "Infrastrukturen und Umwelt" beschäftigt sich Arnost Stanzel mit sozialistischen Staudammbauten in den Slowakischen Karpaten. Er stellt anhand der Analyse von Zeitungsartikeln (1950-1975) heraus, wie die Großprojekte zur Elektrifizierung, insbesondere in den 1950er Jahren, vom kommunistischen Regime in der Tschechoslowakei ideologisch aufgeladen wurden. Als Projekte zur Schaffung des "Neuen Menschen" sollten sie den Bauern von der Mühsal des Kapitalismus und den Gefahren der ungebändigten Natur befreien (51f.). Politische Instrumentalisierung und kulturelle Deutung verschwimmen in diesem Prozess, der dem Vorbild des kommunistischen Mutterlandes folgte. Ein ähnliches Zusammenspiel zwischen kultureller Symbolik und politischer Instrumentalisierung erklärt Eva-Maria Stolberg im Themenblock "Landschaftswahrnehmung". Sie führt aus, wie nationale Narrative eng mit den Flüssen Oder und Weichsel verknüpft sind. Für Polen symbolisierte Mutter Weichsel die Unteilbarkeit des Landes: "Solange die Weichsel fließt, wird auch Polen nicht verloren sein", heißt es in der Nationalhymne. Gleichzeitig wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von deutscher Seite aus ein germanisch-deutscher Flussraum, der bis zur Weichsel reichte, konstruiert. Insgesamt weist die Autorin eindrucksvoll nach, wie Flüsse zu "Grenzlinien und zu Markierungen nationaler Antagonismen" werden (185).
Im Themenabschnitt "Landschaftswandel" zeichnet Horst Förster den konkreten Wandel der Kulturlandschaft in Nordböhmen seit Anfang des 19. Jahrhunderts nach. Mit der Industrialisierung wurde die ursprünglich agrarisch geprägte Landschaft durch den Bergbau funktional überformt. Zwischen 1950 und 1970 wurde die Kohleförderung noch einmal entscheidend ausgebaut. Devastierte Flächen, Grundwasserabsenkungen, Wasserverschmutzungen und Störungen des bioklimatischen Gleichgewichts durch Gasexhalationen waren die Folge. Eine analoge Geschichte beschreibt Michael Heinz im Abschnitt zu Agrarmodernisierung. Gestützt auf Technik- und Wissenschaftseuphorie wurde nach sowjetischem Leitbild ab Mitte der 1960er Jahre in der DDR eine Industrialisierung der Landwirtschaft vorangetrieben. Ins Bild einer sozialistischen Großraumlandwirtschaft gehörten Flurbereinigung und Massentierhaltung. Die Ausräumung der Landschaft führte zu Lebensraumverlusten für Flora und Fauna, Bodenerosion nahm zu und durch die Gülleentsorgung stieg die Nitratbelastung im Grund- und Oberflächenwasser um ein Vielfaches an. Beide Aufsätze lesen sich als genau jene Niedergangsnarrative sozialistischer Couleur, die der Band revidieren wollte.
Im letzten und differenziertesten Teil widmen sich fünf Autoren der Geschichte der Umwelt- und Naturschutzbewegung. Frank Uekötter erklärt, wie in sozialistischer Tradition sowjetischer Prägung die Beherrschung der Natur im Zentrum der politischen Ökonomie stand. Vor diesem Hintergrund waren die Möglichkeiten für Umweltaktivisten begrenzt. Dennoch spielten sie eine relativ gewichtige Rolle, nicht zuletzt bei dem politischen Umbruch 1989. Der Autor bettet hier skizzenhaft die bislang wenig beachtete Umweltbewegung in Osteuropa in eine globale Geschichte der Umweltbewegung ein, was in beiderlei Richtung außerordentlich erhellend wirkt. [1] En detail gerät die Entwicklung der Umwelt- und Naturschutzbewegung in der Tschechoslowakei in den folgenden Aufsätzen in den Blick. Martin Pelc arbeitet in seinem ausgezeichnet übersetzten Aufsatz die Bemühungen um die böhmische Landschaft vor 1945 heraus. Dabei betont er die Rolle von Rudolf Korb und dessen intensive Verbindungen zu Ernst Rudorff und der deutschen Heimatschutzbewegung. Dies war allerdings ein böhmischer Sonderweg. Anhand des tschechoslowakischen Tatranationalparkes zeigt Bianca Hoenig wie eine Form von Naturpolitik, die eigentlich westlichen Ursprungs war, in den sozialistischen Staatsapparat integriert wurde. Dabei ergebe sich ein vielleicht spezifisch ostmitteleuropäisches Muster Natur "durch den Menschen für den Menschen" zu schützen (316). Die Autorin lässt an dieser Stelle Ostmitteleuropa in Beziehung und Abgrenzung zu "Ost" und "West" als eigenes räumliches Konzept einmal konkret aufblitzen.
Insgesamt liefert der Band eine erste Orientierung zur Umweltgeschichte in einem bislang nur relativ einseitig erforschten Raum. Ob Ostmitteleuropa als Umweltgeschichtsregion eine sinnvolle Einheit darstellt, erscheint mir auch nach der Lektüre des Bandes als offene Frage. Dies liegt zum einen daran, dass sich die Aufsätze auf bestimmte geographische Einheiten wie Böhmen beziehen; zum anderen, dass die Unterschiede zu einer Umweltgeschichte der Sowjetunion bzw. der DDR nach 1945 noch nicht ausreichend klar benannt worden sind. Gleichwohl ist durch die allgemeineren Überlegungen von Julia Herzberg und Frank Uekötter ein konzeptioneller Bogen aufgespannt worden, der es ermöglicht, weitere Mosaiksteine für eine Umweltgeschichte kleinerer oder größerer geographischer Einheiten Ost(mittel)europas herzustellen und einzuordnen.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu Frank Uekötter: Am Ende der Gewissheiten. Die Ökologische Frage im 21. Jahrhundert, Frankfurt 2011( http://www.sehepunkte.de/2012/07/21022.html ) und Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie, München 2011 ( http://www.sehepunkte.de/2012/09/19259.html ).
Patrick Masius