Barbara Stollberg-Rilinger: Rituale (= Campus Historische Einführungen; Bd. 16), Frankfurt/M.: Campus 2013, 294 S., ISBN 978-3-593-39956-0, EUR 18,90
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Dem Ritualbegriff kommt in der kulturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre und Jahrzehnte überragende Bedeutung zu. Es wird gar von einem ritual turn in den Geisteswissenschaften gesprochen (20). Nach den Ethnologen und Kulturanthropologen, die die Deutungskraft des Konzepts früh erkannten, griffen gerade Historiker, insbesondere die der Vormoderne, die damit verbundenen Anregungen auf und erschlossen so neue fruchtbare Themen- und Methodenfelder, die längst in die universitäre Lehre Eingang gefunden haben. Höchste Zeit also, dass eine griffige "Historische Einführung" über Rituale auf den Markt kommt, die sich explizit "an Studierende aller Semester sowie an Examenskandidaten und Doktoranden" wendet (2) - darüber hinaus aber, ist hinzuzufügen, auch von Dozenten und allen Interessierten mit großem Gewinn gelesen werden kann.
Die einschlägig ausgewiesene Münsteraner Frühneuzeithistorikerin zeigt in dem Studienbuch großes Geschick, komplexe und abstrakte Zusammenhänge konkret und verständlich zu erklären. Dies sieht man bereits bei den Ausführungen zu ihrem "Definitionsvorschlag" ("Als Ritual im engeren Sinne wird hier eine menschliche Handlungsabfolge bezeichnet, die durch Standardisierung der äußeren Form, Wiederholung, Aufführungscharakter, Performativität und Symbolizität gekennzeichnet ist und eine elementare sozial strukturbildende Wirkung besitzt."; 9): Die einzelnen Komponenten ("Standardisierung und Wiederholung" etc.) werden jeweils diskutiert und in ihrer Bedeutung und ihren weiteren Bezügen verständlich gemacht. Die Verfasserin bietet darüber hinaus noch eine Vielzahl von weiteren Begriffsdefinitionen und Erläuterungen, die immer genau dann eingestreut werden, wenn das Bedürfnis nach besserem Verständnis aufkommt. Sie bringt wohldosiert einschlägige Beispiele und Exkurse just an den Stellen, wo vertiefende Exemplifizierung angebracht erscheint. Die Konzepte wichtiger Theoretiker der Ritualforschung werden durch prägnante Zitate verdeutlicht, so dass es nicht bei einem bloßen Namedropping bleibt.
Nach einem kürzeren einleitenden Teil, der sich mit definitorischen, forschungsgeschichtlichen und theoretischen Fragen sowie der Rolle der Ritualforschung in der Geschichtswissenschaft beschäftigt, behandelt der Band in seinem ersten Teil "zentrale Themenfelder" in historischer Perspektive (wie Rituale des Lebenszyklus, der Herrschaft oder des Rechts), in seinem zweiten "Kontroversen und systematische Aspekte" (wie die Rekonstruierbarkeit von Ritualen, ihre Medialität oder den Antiritualismus der Moderne). Entsprechend der Schwerpunkte der historischen Ritualforschung und den Forschungsfeldern der Verf. behandelt das Buch mehr das Mittelalter und die Frühe Neuzeit als andere Epochen. Doch werden immer wieder gerade auch Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit herangezogen (etwa der zunächst misslungene Amtseid des amerikanischen Präsidenten Barack Obama im Jahre 2009 oder die Macht nationalsozialistischer Inszenierungen), um zu zeigen, dass Rituale nicht ausgestorben sind und das Verständnis ihrer Mechanismen zu einer kritischen politisch-gesellschaftlichen Orientierung beiträgt.
In lockerer Streuung werden im Buch in einigen Vertiefungskästen Definitionen, Begriffsdiskussionen und ein weiteres Exemplum geboten, auch ein Personen- und Sachregister fehlt nicht. Was nicht im Buch Platz hat, wird auf der verlagseigenen "Online-Plattform" frei zugänglich gemacht - allerdings muss der Leser bis Seite 45 warten, bevor er von diesem Service erfährt, danach verweisen dann Marginalzeichen an jeweils passenden Stellen darauf hin (weit über die Titel im Buch hinausgehende Bibliographie von 70 Seiten sowie 23 Text-, Bildquellen und Exkurse von 63 Seiten). Besonders die im Netz zu findenden Bilder und ihre Deutung sind hochwillkommen, bietet das Buch doch abgesehen vom Umschlagmotiv lediglich zwei kleine s/w-Abbildungen. Auf zwei Fehler ist hinzuweisen: Karl und Otto der Große wurden nicht in Aachen, sondern in Rom zum Kaiser gekrönt, letzterer nicht 926, sondern 962 (221).
Der glänzend geschriebene Band belegt die besondere Bedeutung von Ritualen für die Strukturierung und Stabilisierung der politisch-sozialen Ordnung gerade vormoderner, vorstaatlicher Gesellschaften, unterstreicht aber gleichzeitig auch die Fortdauer ritueller Praktiken bis in die Gegenwart sowie ihre Ambiguität. Für das Erkennen, Verstehen und den kritischen Umgang mit heutigen Ritualen zu sensibilisieren, ist nicht das geringste Verdienst des Buches von Barbara Stollberg-Rilinger ("Warum Ritualforschung betreiben?"; 244).
Uwe Israel