Rezension über:

Friedrich Wilhelm Schembor: Franzosen in Wien: Einwanderer und Besatzer. Französische Revolution und napoleonische Besatzung in den österreichischen Polizeiakten, Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2012, 269 S., 27 s/w-Abb., ISBN 978-3-89911-186-6, EUR 33,75
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Helmut Stubbe da Luz
Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Helmut Stubbe da Luz: Rezension von: Friedrich Wilhelm Schembor: Franzosen in Wien: Einwanderer und Besatzer. Französische Revolution und napoleonische Besatzung in den österreichischen Polizeiakten, Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 5 [15.05.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/05/23211.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Friedrich Wilhelm Schembor: Franzosen in Wien: Einwanderer und Besatzer

Textgröße: A A A

Auf zwei unterschiedliche Arten haben Franzosen im Zeitalter von Revolution und Restauration massenhaft ihre Grenzen ins europäische Umland hin überschritten. Zunächst als Revolutions-Emigranten, als Privatleute; sie ließen sich im Ausland nieder oder aber organisierten sich dort, um kriegerisch die politische Restauration in ihrem Land zu erzwingen. Sodann kamen zunächst revolutionäre, später napoleonische Armeen heranmarschiert, die "Revolutionskriege", später "Koalitionskriege" führten und - im Dienst ihres Pariser Staates - als Eroberer, als militärische Besetzer, und - zusammen mit Ziviladministratoren - als Okkupanten gelegentlich auch in solche Städte kamen, die zuvor Ziel der Emigranten gewesen waren. Unter anderem in Wien war das der Fall.

Schnell ergeben sich eine Reihe lohnender historischer Fragestellungen: Welchen Status vermochten die Emigranten der 1790er Jahre sich in ihrer Wahlheimat zu erwerben, beispielsweise auch angesichts dort einheimischer oder bereits zuvor aus Frankreich eingewanderter Revolutionsfreunde, und welche Auswirkungen hatte dies, als später die französischen Militärs und Okkupationsadministratoren eintrafen? Brachten die Eingeborenen, hier die Wiener, zu nennenswerten Anteilen den französischen Eroberern bestimmte Erwartungen entgegen - aufgrund ihres durch das Zusammenleben mit den Emigranten entstandenen Franzosenbildes? Arbeiteten die Emigranten mit den aus ihrer Heimat heranmarschierten Eroberern, Besetzern und Okkupanten zusammen oder aber blieben sie auf Distanz? Was hielten die französischen Eroberer und Okkupanten, unter denen sich auch diverse (mehrfach nicht einmal unmaßgebliche) Akteure befanden, die Anfang des neuen Jahrhunderts ins napoleonische Frankreich zurückgewandert waren, von denjenigen Emigranten, die nach ihrer Auswanderung in ihrer Wahlheimat verharrt hatten?

Friedrich Wilhelm Schembor stellt zwei Kapitel einander gegenüber: "1. Die Polizeimaßnahmen gegen die in Österreich anwesenden Franzosen und Sympathisanten der Französischen Revolution vor und nach der Hinrichtung König Ludwigs XVI." und "2. Der Umgang der französischen Besatzungstruppen und ihrer Polizei mit der Bevölkerung und den österreichischen Polizeiorganen während der Okkupation 1809". Das Bindeglied zwischen den beiden Kapiteln stellen zunächst die benutzten Quellenbestände dar - Wiener Polizeiakten. Allein schon aufgrund der Nähe zu diesen Quellen ist Schembors Studie prinzipiell verdienstvoll, wenngleich diese Nähe an einigen Stellen auch durch reflektierende, abstrahierende, resümierende Distanz hätte abgelöst werden dürfen. Wenn es ferner auch angebracht gewesen wäre, auf die natürlicherweise gegebene "déformation professionelle" der Verfasser und Zusammensteller jener Akten ausdrücklich hinzuweisen und diesen Umstand bei der Gewichtung und Bewertung der darin auffindbaren Informationen auch zu berücksichtigen. Die Geschichte, die hier rekonstruiert worden ist, scheint eher die Geschichte von Teilen der Wiener Exekutive zu sein als die Geschichte der "Franzosen in Wien" in deren Eigenschaften als "Einwanderer und Besatzer".

Schembors erstes Kapitel bietet ein Potpourri von allerlei gut erzählbaren "Fällen" aus dem Tagebuch der Wiener Polizei, in denen es um irgendwie "bedenkliche Personen" geht, ferner um die Entwicklung staatlicher Sicherheitsmaßnahmen: Registrierung von Fremden, Drosselung der Zuwanderung, Ausweisung bestimmter Personengruppen - dies alles freilich vor dem Hintergrund einer Population französischen Ursprungs, die weder rein quantitativ noch ihrem Verhalten nach ein ernsthaftes Problem der Inneren Sicherheit darstellte.

Im zweiten Kapitel wird diese Vorgehensweise fortgesetzt, wobei sich hier ein Theoriedefizit besonders bemerkbar macht. Der Leser muss selbst, zwischen den Zeilen, erschließen, um welche Art Geschehnis es sich handelte: Wurde Wien 1809 einer Okkupation unterworfen oder "nur" militärisch besetzt? Welche Besatzungs- oder Besetzungspolitik wurde ausdrücklich, welche tatsächlich verfolgt? Wie sah das "Besatzungs"- oder eben "Besetzungsstatut" aus? Wer stand an der Spitze der zeitweiligen französischen Autoritäten? Wo so viele Geschichten erzählt werden, hätten einige Angaben zu Gouverneur Andréossy (zuvor französischer Gesandter in Wien) und seinen Aktivitäten nicht schaden können.

Immerhin bietet sich dem Leser ein Eindruck davon, was im Zuge einer militärischen Besetzung oder einer Besatzung mit "indirect rule" an der Tagesordnung zu sein pflegte: Elemente des Ausnahmezustands, Kontributionen, Requisitionen, Deportationen von der einen Seite, auf der anderen Seite eine Palette direkter oder indirekter Reaktionen, von denen hier freilich fast nur die kriminellen Akte erwähnt werden. Am Schluss folgt auch eine Statistik solch krimineller Vergehen, doch wäre es vor allem interessant gewesen, zu analysieren, ob und bis zu welchem Grade es sich um für die Situation einer militärischen Besetzung oder Okkupation typische Akte handelte.

Ganz am Schluss, in der Zusammenfassung, wird eine Fragestellung angedeutet, die, wenn sie als Leitfaden von Anfang an systematisch verfolgt worden wäre, möglicherweise noch mehr Ertrag hätte einbringen können. Sie bezieht sich auf die österreichisch-französischen Beziehungen, auf das Frankreichbild vor allem in Wien: Durch die Einwanderung der 1790er Jahre hätte es sich zumindest nicht zum Positiven hin entwickelt, und die militärischen Besetzer oder Okkupanten des Jahres 1809 hätten dann die Chance verpasst, dieses verzerrte Image wieder zurechtzurücken. Dabei habe sich doch - so Schembor - "die perfekte Gelegenheit" ergeben, "der Bevölkerung die Überlegungen französischer Lebensart und Sitte und die mit der Parole von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verbundenen Errungenschaften vor Augen zu führen". Im Rahmen einer militärischen Besetzung oder Disziplinierungsokkupation (auf der Grundlage der indirekten Herrschaft) ist die genannte Chance aber regelmäßig geringer als im Rahmen einer Annexionsokkupation auf der Basis einer direkten Herrschaft und Assimilationspolitik, die darüber hinaus moderat durchgeführt, auch noch längere Zeit andauern und eine Reihe von Friedensjahren einschließen muss.

Friedrich Schembor hat zu einer Studie darüber angesetzt, wie sich auf den Verlauf und die Auswirkungen einer militärischen Besetzung oder Okkupation der Umstand auswirken kann, dass die Besetzer oder Okkupanten an Ort und Stelle auf eine nennenswerte Kolonie früher emigrierter Landsleute treffen. Hier kann ein Blick über Wien hinaus und auf die einschlägigen Geschehnissorten (Okkupation, militärische Besetzung, okkupationsinduzierter soziokultureller Wandel) weiterhelfen. Als Vergleichsobjekte aus dem engeren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang kommen einige deutsche Städte in Frage, links und rechts des Rheins, Mainz etwa und Hamburg.

Helmut Stubbe da Luz