Ronen Steinke: Fritz Bauer. Oder Auschwitz vor Gericht. Mit einem Vorwort von Andreas Voßkuhle, München / Zürich: Piper Verlag 2013, 352 S., 13 Abb., ISBN 978-3-492-05590-1, EUR 22,99
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Nachdem Fritz Bauer nach seinem plötzlichen Tod 1968 über Jahrzehnte weitgehend in Vergessenheit geraten war, liegt mit Ronen Steinkes Buch nunmehr die dritte Monographie vor, die sich ausführlich mit Leben und Wirken des im 'Dritten Reich' in die Emigration getriebenen und 1949 nach Deutschland zurückgekehrten Juristen und Sozialdemokraten befasst. [1] Gleich zu Beginn sei darauf hingewiesen, dass der Untertitel "Auschwitz vor Gericht" in die Irre führt. Zwar spielt der Prozess, als dessen Initiator und Organisator Fritz Bauer gilt, eine prominente Rolle in der Studie, letztlich beschäftigt sich jedoch nur eines von elf Kapiteln mit dem Frankfurter Verfahren. Es liegt die Vermutung nahe, dass der Untertitel vor allem dem verkaufsfördernden 50. Jahrestag des Beginns des Prozesses am 20. Dezember 1963 geschuldet ist.
Die ersten sechs Kapitel des Buches sind weitgehend chronologisch angeordnet. Auf das Vorwort des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, folgt als erstes Kapitel eine Art Einleitung. Als spannender Aufmacher dienen Bauers Aktivitäten im Zusammenhang mit der Suche nach Adolf Eichmann, als er der israelischen Justiz den entscheidenden Hinweis auf dessen Aufenthaltsort gab. Im Weiteren werden die Person Bauers kurz vorgestellt und die wichtigsten Aspekte des Buches angerissen. Es folgen Kapitel über Herkunft und Familie Bauers, seine Studienjahre, seine berufliche Tätigkeit als Richter in der Weimarer Republik, die Zeit im Konzentrationslager und im Exil in Skandinavien sowie sein Wirken als Richter und Generalstaatsanwalt in Braunschweig. Mit dem Wechsel Bauers nach Frankfurt 1956 erhalten die restlichen Kapitel inhaltliche Schwerpunkte unabhängig von der Chronologie. Ein Kapitel beschäftigt sich mit Bauers kriminologischen Überlegungen, wobei noch einmal auf die Zeit als Richter in Stuttgart in der Weimarer Republik zurückgegriffen wird. Es folgen das Kapitel über den Auschwitz-Prozess sowie drei Kapitel, die sich noch einmal intensiv mit dem Menschen Bauer befassen, seinem Privatleben, dem Verhältnis zu seinen Kollegen und seinem Tod im Jahr 1968.
Hervorzuheben ist zunächst, dass sich das Buch des promovierten Juristen und Journalisten Ronen Steinke hervorragend liest. Wer eine streng wissenschaftliche Abhandlung erwartet, wird enttäuscht, dafür aber mit einem spannend zu lesenden Lebensbericht entschädigt. Um die Wissenschaft nicht ganz vor den Kopf zu stoßen, werden am Ende des Buches Anmerkungen und Quellenhinweise geboten, allerdings nicht in der strengen Form von Fuß- bzw. Endnoten, sondern jeweils kapitelweise zu einzelnen hervorgehobenen Textpassagen. Dies ist gewöhnungsbedürftig, hat aber den Vorteil, dass der Lesefluss nicht gestört wird.
Aufschlussreich sind in den ersten Kapiteln vor allem Steinkes Ausführungen über Bauers Engagement in jüdischen Studentenverbindungen (56 ff.) und die daraus resultierende Frage, inwieweit sich der Spross einer assimilierten jüdischen Familie tatsächlich als Jude gesehen hat. Trotz seiner engen Beziehungen zu Israel und seiner Äußerungen im Umfeld des Auschwitz-Prozesses, er denke über eine zweite Emigration nach Israel nach, wurde bislang allgemein angenommen, dass seine jüdische Herkunft für Bauer nur eine geringe oder gar keine Rolle gespielt habe. Demgegenüber legt Steinke überzeugend dar, dass diese ostentative Abkehr vom Judentum erst mit Bauers Rückkehr in die Bundesrepublik einsetzte. Bauer habe, so der Autor, befürchten müssen, dass angesichts eines in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik nach wie vor teils offenen, meistenteils aber latenten Antisemitismus ein offenes Bekenntnis zum Judentum seine Wirkmöglichkeiten beträchtlich einschränken würde (116 ff., 217 f. und 243 ff.).
Der zweite Hauptteil, der sich hauptsächlich mit Bauers Tätigkeit als "Nazi-Jäger" befasst - und insofern mag der kritisierte Untertitel als pars pro toto dienen -, setzt unmittelbar mit der interessanten Frage ein, wie sich Bauers vor allem auf Spezialprävention und Rehabilitation ausgerichtete Strafrechtsdogmatik mit der Verfolgung gesetzestreuer und vollständig in die bundesdeutsche Gesellschaft integrierter NS-Verbrecher vereinbaren lässt (152 ff.). Ausführlich schildert Steinke Bauers juristische Sozialisation durch von Liszt und Radbruch sowie seine Zeit als Jugendrichter in Stuttgart, in der Bauer das Lisztsche Diktum, Sozialpolitik sei die beste Kriminalpolitik, erstmals zu verwirklichen suchte. NS-Täter jedoch wurden für Bauer Mittel zum Zweck, die für ihn rein generalpräventive Zielsetzung von NSG-Verfahren lehnte er für "normale" Kriminalität eindeutig ab, so dass sich der Widerspruch zwischen dem von ihm postulierten Besserungsstrafrecht und der Verfolgung von NS-Tätern letztlich nicht auflösen lässt.
Im Kapitel über den Auschwitz-Prozess geht es dem Juristen Steinke nur am Rande um die strafrechtlichen Dimensionen des Verfahrens. Die wichtigsten Aspekte, beispielsweise die Täter-Gehilfen-Problematik, werden erwähnt, bleiben aber insgesamt an der Oberfläche. Ausführlicher wird das Bauersche Konzept des Gesamtgeschehens einer Tat behandelt, seine in mehreren Aufsätzen ausgearbeitete Tätertypologie [2] wird jedoch nur angerissen. Die Funktion vor allem der historischen Gutachten in den Verfahren wird gewürdigt, Bauers umstrittener Vortrag zu den "Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns" [3] jedoch bleibt unerwähnt. Eingesprenkelt in das Kapitel finden sich dann (zu) knappe Informationen zu den von Bauer geführten Verfahren gegen Täter der NS-"Euthanasie", die im Unterschied zum Auschwitz-Prozess von Bauers eigener Behörde, der Generalstaatsanwaltschaft, selbst bearbeitet wurden. Auch die Ausführungen über einige christlich-theologische Aufsätze Bauers und dessen Religiosität sowie über den Skandal um seine Äußerungen gegenüber dem dänischen Boulevardblatt "B.T." wirken innerhalb dieses Auschwitz-Kapitels seltsam deplatziert. Sehr deutlich jedoch arbeitet Steinke den in den Ermittlungsakten tatsächlich nur schwer greifbaren bestimmenden Einfluss Bauers auf den Prozess heraus - hier hätte man in den Akten zu den "Euthanasie"-Verfahren mehr gefunden - sowie die einfache aber bedeutende Tatsache, dass es ohne das große persönliche Engagement des Generalstaatsanwalts gar nicht erst zu diesem Prozess gekommen wäre.
Die abschließenden drei Kapitel hinterlassen zum Teil einen zwiespältigen Eindruck. Zum einen erfährt der Leser Interessantes aus dem Privatleben Bauers, zum anderen referiert Steinke seitenlang über die Diskussionen um den Paragraphen 175 des Strafgesetzbuchs. Zwar nahm auch Bauer daran teil, sein Engagement und sein Einfluss waren hier aber wohl eher gering. Auch wenn Bauer selbst homosexuell gewesen sein sollte, scheint der Raum, den Steinke diesem Thema hier einräumt, überdimensioniert. Wirklich aufschlussreich ist lediglich die Tatsache, dass sich in der Praxis der Strafverfolgung Homosexueller in der Amtszeit Bauers als Frankfurter Generalstaatsanwalt keine Änderung einstellte.
Im vorletzten Kapitel schildert der Autor noch einmal eindringlich das Unbehagen und die Distanz Bauers gegenüber dem Judentum nach seiner Rückkehr nach Deutschland. Steinke bezeichnet es als die Tragik Bauers, sich ausgerechnet von der einzigen Gesellschaftsgruppe abgegrenzt zu haben, "die ihn je wirklich hat dazugehören lassen" (250), was umso mehr zu seiner Isolation in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft beigetragen habe. Aufschlussreich über den Menschen Bauer sind auch die Passagen, in denen geschildert wird, welchen schweren Stand Bauers Staatsanwälte unter seiner Ägide hatten, vor allem da sie von ihrem Vorgesetzten nur wenig Unterstützung erfahren hätten.
Im Mittelpunkt des Buches steht der Mensch Fritz Bauer. In seinem einleitenden Kapitel lobt Steinke die bisher erschienenen Monographien über Fritz Bauer, konstatiert aber zu Recht "weiße Flecken" (24). Einige dieser weißen Flecken füllt die Studie hervorragend aus, andere bleiben - auch aufgrund der Quellenlage - bestehen, mitunter wird jedoch auch Bekanntes, aber für Bauers Tätigkeit nicht Unwichtiges nur angerissen oder bleibt gänzlich unerwähnt. Um ein volles Bild von Fritz Bauer und dessen Wirken zu erhalten, muss man also auch weiterhin mindestens zwei der bisher verfügbaren Bücher über diesen Mann lesen. Auch hinsichtlich des Auschwitz-Prozesses muss der an weiteren Details interessierte Leser auf zusätzliche Literatur zurückgreifen. [4] Würde man die Maßstäbe einer wissenschaftlichen Abhandlung zugrunde legen wollen, wären vor allem in der Komposition des Buches Defizite zu verzeichnen. Dies jedoch sollte man keinesfalls tun, sondern es als spannenden Lebensbericht einer herausragenden Persönlichkeit der bundesrepublikanischen Geschichte lesen, die - und damit schließt Steinkes Buch - gezeigt hat, was im Vergleich zu der Zeit vor und nach ihm eben doch möglich war auf dem Gebiet der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Matthias Meusch: Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956-1968), Wiesbaden 2001; Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie, München 2009.
[2] Fritz Bauer: Genocidium (Völkermord), in: Handwörterbuch der Kriminologie, Band 1, Berlin 1966, 268-274; ders.: Kriminologie und Prophylaxe des Völkermords, in: Recht und Politik. Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik, Heft 1, 1967, 67-74; ders.: Kriminologie des Völkermords, in: Rechtliche und politische Aspekte der NS-Verbrecherprozesse, hgg. von Peter Schneider / Hermann J. Meyer, Mainz 1968, 16-24.
[3] Fritz Bauer: Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns, Frankfurt am Main 1965.
[4] Etwa Gerhard Werle / Thomas Wandres: Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz, München 1995, oder Michael Greve: Der justizielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt am Main 2001.
Matthias Meusch