Denise Klein (ed.): The Crimean Khanate between East and West (15th-18th Century) (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte; 78), Wiesbaden: Harrassowitz 2012, 241 S., ISBN 978-3-447-06705-8, EUR 54,00
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Der nördliche Teil des Schwarzen Meeres bildete über lange Zeit hinweg die Schnittstelle zwischen dem Osmanischen, dem Polnisch-Litauischen und dem Russischen Reich. Angesichts ihrer zentralen Lage versuchten die drei Seiten ihren Einfluss insbesondere auf der Krim zur Geltung zu bringen, was in der Regel nicht nur durch eine wirtschaftliche Durchdringung, sondern vor allem in Form handfester militärischer Auseinandersetzungen geschah. Dennoch konnte das Krimchanat im Schatten der osmanischen Nachbarn beinahe 300 Jahre lang - von 1478 bis 1774 - in vielen Bereichen autonom agieren und langfristig eine ganz eigene Identität entwickeln und bewahren. Die Herrscher, die ihre Abstammung direkt auf Chingis Khan zurückführten, regierten über ein ethnisch, tribal und bezüglich seiner sozialen Ordnungen sehr heterogenes Gebiet, das sich über die Halbinsel hinaus in die südlichen Steppenregionen der heutigen Ukraine bis zum unteren Don erstreckte. Schließlich fiel es nach dem russisch-osmanischen Krieg 1768-1774 an Russland. Im Jahre 1783 wurde das Gebiet offiziell in das russische Provinzialsystem eingegliedert. Obgleich russische Forscher im Laufe der Zeit eine Reihe wichtiger Studien veröffentlicht haben, kann man sagen, dass die Erforschung der Geschichte und Gesellschaft des Krimchanates insgesamt lange Zeit eher ein Schattendasein führte. Erst vor kurzem hat eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem hochinteressanten Herrschaftsverband begonnen, obgleich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler naturgemäß eher Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfern gleichkommen und auf zahlreiche Länder verstreut sind. Insofern ist es sehr erfreulich, dass Denise Klein, die seit diesem Jahr als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz arbeitet, es geschafft hat, in einem Sammelband zwölf Krim-Historikerinnen und -Historiker aus Deutschland, Österreich, Ungarn, Polen und Russland in einem Sammelband zusammenzubringen. Herausgekommen ist ein ausgezeichnetes Werk, das uns die Vielfältigkeit der Forschung wie auch des Gegenstandes deutlich vor Augen führt. Der erste Teil ("The Steppe Legacy") setzt ein mit einem Beitrag des ungarischen Turkologen István Vásáry. ["The Crimean Khanate and the Great Horde (1440s-1500s): A Fight for Primacy", 13-26]. Vásáry behandelt den spannenden Übergang von der Herrschaft der Goldenen Horde hin zur Etablierung des Machtanspruches der Giray während des 15. Jahrhunderts. Mária Ivanics ("Die Şirin. Abstammung und Aufstieg einer Sippe in der Steppe", 27-44) befasst sich ausführlich mit der Geschichte der Şirin, dem für die gesamte Periode des Krimchantes einflussreichsten tatarischen Stamm. Sie untersucht, wie die Şirin diese Machtposition erlangten und vor allem, wie sie diese herausgehobene Stellung über zahllose Generationen hinweg aufrecht erhalten konnten. Dabei gilt zu berücksichtigen, dass es sich um eine Art gemeinsame Herrschaft der vier mächtigsten tribalen Gruppen mit dem jeweiligen Chan handelte. Allerdings scheint dieses System, das den Gruppen, die am rechten Flügel der Goldenen Horde entstanden sind (Krim, Kazan, Kasimov), eigen war, auch eine Erklärung dafür, dass das Chanat in seinen Strukturen dem Osmanischen Reich letzten Endes nur wenig ähnelte.
Thema des zweiten Teils ist die geostrategische Lage des Krimchantes zwischen der Hohen Pforte im Süden und Polen-Litauen bzw. dem Russischen Reich im Norden ("Between Eastern Europe and the Ottomans"). Den Beginn macht der polnische Historiker Dariusz Kołodziejczyk mit einer Studie über die diplomatischen Beziehungen des Chanates mit seinen Anrainern. ("Das Krimkhanate als Gleichgewichtsfaktor in Osteuropa (17.-18. Jahrhundert), 47-59] Es ergeben sich bestimmte Muster: Um den Status Quo in der nördlichen Region aufrecht zu erhalten, verbündete man sich in der Regel mit der jeweils schwächeren Seite. Ebenso gab es keine "Nibelungentreue" zu den Glaubensbrüdern am Bosporus. Vielmehr nutzte man jede Schwäche aus, wenn es darum ging, die eigene Position zu stärken oder zu verteidigen. Dieses Gleichgewicht der Mächte wurde erst ernsthaft gefährdet, als sich Russland zu einer Großmacht mit Expansionsgelüsten entwickelte und man sich daher gezwungen sah, sich offiziell unter den Schutz des Osmanischen Reiches zu stellen. Einen Einzelfall in diesem Beziehungsgeflecht analysiert der russische Kollege Kirill Kočegarov. ("The Moscow Uprising of 1682: Relations between Russia, the Crimean Khanate, and the Polish-Lithuanian Commonwealth", 59-74) Im Fokus stehen die regionalen Rückkopplungen, die die Moskauer Wirren des Jahre 1682 verursachten. Der Chan nutzte die Schwäche im Zentrum des russischen Reiches sofort aus und bot sich zentrifugalen Kräften in der Ukraine als geeigneter Verbündeter im Kampf gegen polnisch-litauisches Machtstreben an. Die wichtige Frage der tatarisch-osmanischen Beziehungen behandelt Sándor Popp, wobei er sich insbesondere die Umstände der Einsetzung der Chane angesehen hat. ["Die Inaugurationen der Krimkhane durch die Hohe Pforte (16.-18. Jahrhundert)"] Es gelingt ihm anhand einer genauen Untersuchung zahlreicher Investiturdokumente überzeugend, die Zeit von 1608 bis 1628 als einen Wendepunkt auszumachen. Nach diesem Datum wurden die Herrscher nämlich nicht mehr im Rahmen einer Wahlversammlung gekürt oder durch ihren Vorgänger ernannt, sondern von Istanbul aus eingesetzt. In dem letzten Beitrag nimmt Gáspár Katkó den Freikauf der 1657 in tatarische Gefangenschaft geratenen transsilvanischen Truppen. ("The Redemption of the Transylvanian Army Captured by the Crimean Tatars in 1657", 91-106) Der Verfasser geht sowohl auf die Verhandlungsusancen wie auf die Rolle nicht-muslimischer Händler ein.
Der letzte Abschnitt in dem Sammelband ist dem weiten Feld der Kultur und Gesellschaft des Krimchanates gewidmet. Die polnische Nachwuchswissenschaftlerin Natalia Królikowska hat das Glück, sich mit einem einmaligen Quellenmaterial beschäftigen zu können. Gemeint ist eine umfangreiche Sammlung krimtatarischer Rechtsdokumente (sicills) aus dem Umfeld des Hofes. ("Crimean Crime Stories; Cases of Homicide and Bodily Harm during the Reign of Murad Giray (1678-1683", 109-124) In ihrem Artikel befasst sie sich mit Fällen aus dem späten 17. Jahrhundert, in denen es um Mord oder Körperverletzungen geht. Królikowska gibt dem Leser zum einen einen erhellenden Einblick in das Rechtssystem auf der Krim. Zum anderen erfahren wir viel über den sozialen Hintergrund der Prozessführenden. Da sie aus verschiedenen Gegenden des Chanates kamen, kann man davon ausgehen, dass die Rechtsprechung bis weit in die Provinzen hinein gewirkt haben muss. Die Herausgeberin des Werkes, Denise Klein, interessiert sich in ihrem Beitrag für die grundsätzliche Problematik, aus historiographischem Material Aussagen über eine vermeintliche Realität abzuleiten. ("Tatar and Ottoman History Writing: The Case of the Nogay Rebellion (1699-1701)", 125-146) Klein hat sich in sechs zeitgenössischen tatarischen und osmanischen Chroniken die Berichte über einen Aufstand der Nogaier an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert angesehen. Sehr schön kann sie zeigen, wie die verschiedenen Interpretationen und narrativen Darstellungen in den Einzeltexten aufgebaut sind und welchem Zweck sie in der internen Diskussion und in der Darstellung gegenüber dem osmanischen Hof in Istanbul dienten. Darüber hinaus wird klar, dass die tatarischen Narrative aufgrund ausgeprägter lokaler Traditionen und der selektiven Integration osmanischer Elemente recht heterogen sind.
Die Krim und ihre Bewohner zogen natürlich auch Reisende aus allen Teilen Europas an, die über ihre Aufenthalte dann mehr oder minder ausführliche Berichte verfassten. Sehr interessant ist das in lateinischer Sprache angefertigte Werk, das der polnische Historiker und Diplomat Marcin Broniowki (oder Broniewski) (st. 1592), der insgesamt neun Monate auf der Krim zubrachte, der interessierten Öffentlichkeit vorgelegt hat. Stefan Albrecht geht in seinem Aufsatz der Frage nach, mit welchen narrativen Strategien der Autor unter Zuhilfenahme klassischer geographischer Bücher, zeitgenössischer Reise- und Stadtbeschreibungen und eigener Beobachtungen den Raum auf der Halbinsel darstellt. ("Die Tartariae descriptio des Martinus Bronovius. Entstehung und Wirkung eines Gesandtschaftsberichts aus dem Krimkhanat", 149-168) Man kann erkennen, dass sich Broniowski stark an Konzepte anlehnt, die im Europa der Frühen Neuzeit verbreitet waren. Betrachtet man die Rezeption der Tartariae descriptio, so beeinflusste seine Sicht- und Darstellungsweise die westliche Rezeption der Krim entscheidend. In höchstem Masse spannend sind auch die Ausführungen des Niederländers Nicolaes Witsen (oder Nicolaas Witzen) (1641-1717) über das Krimchanat. Witsen, der unter anderem als Bürgermeister von Amsterdam, Beamter in der VOC (Verenigde Oost-Indische Compagnie) und Berater von Peter dem Großen tätig war und sich zeit seines Lebens für Kartographie, Seefahrt und Schiffsbau interessierte, veröffentlichte 1692 unter dem Titel Noord en Oost Tartarye ein geographisch-ethnologisches Kompendium, in dem er alle ihm zugänglichen Informationen über die nördlichen und östlichen Gebiete in Europa und Asien zusammengetragen hatte. Dazu zählten neben dem Gebiet der Wolga, dem Kaukasus, Zentralasien, die Monglei, Tibet, China und Korea eben auch die Krim. Diesen Abschnitt hat sich Mikhail Kizilov genauer angesehen. ("Noord and Oost Tatarye by Nicolas Witsen: The First Chrestomathy on the Crimean Khanate and its Sources", 169-188) Die Suche nach den Quellen und Vorlagen für Witsens enzyklopädisches Werk brachte eine Reihe von weiteren interessanten Texten zutage, die größtenteils noch nicht näher untersucht worden sind und einer weiteren Bearbeitung harren. Auch aus dem deutschsprachigen Gebiet liegen einige Berichte über die Tataren vor. Christoph Augustynowicz hat sich für seinen Beitrag zwei recht unterschiedliche Texte aus der Zeit um 1700 vorgenommen: "Begegnung und Zeremonial. Das Bild der Krimtataren bei Balthasar Kleinschroth und Johann Christian Lünig" (198-210). Ein Vergleich der Beschreibung der Felder "Politik", "Kleidung", "Körper", Prestige" und "Identität" ergibt, dass wir es in den beiden Texten mit einer Mischung aus Stereotypen und Topoi zu tun haben, die jedoch regelmäßig durchbrochen wird, wenn die Aussagen von Augenzeugen eingeflochten werden. Den Schlusspunkt setzt Kerstin S. Jobst, die sich mit den mentalen und gesellschaftlichen Änderungen nach der Integration der Krim in das Zarenreich nach 1774 auseinandersetzt. ("Vision und Regime. Die ersten Jahrzehnte russischer Krimherrschaft", 211-227) Sie nimmt die russischen Interessen in den Fokus, wobei es ihr sehr gut zu zeigen gelingt, dass es sich bei diesem Prozess um eine Kolonialisierung handelt, die für Europa sehr typischen Mustern folgt.
Denise Klein ist es gelungen, einen wirklich ausgezeichneten Band mit Artikeln von sehr hoher Qualität zusammenzustellen, der für die Erforschung der Geschichte des Krimchanates überaus wichtige und wegweisende Impulse liefert!
Stephan Conermann