Glenda Sluga: Internationalism in the Age of Nationalism (= Pennsylvania Studies in Human Rights), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2013, 219 S., ISBN 978-0-8122-4484-7, GBP 45,50
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Glenda Sluga, Professorin für Internationale Geschichte an der Universität Sydney, hat in großer Breite in diesem Forschungsfeld publiziert. Nun legt sie eine Geschichte des Internationalismus tendenziell für das gesamte 20. Jahrhundert vor. Angesichts des erfreulich knappen Umfangs - 160 Seiten reiner Text - kann das nur zusammenfassend, exemplarisch und gelegentlich summarisch gelten. Wie im Titel angedeutet, hält sie Nationalismus für das lange Zeit dominierende Muster der politischen Orientierung, doch habe es "specific moments" gegeben, "when international visions of community occupied the liberal political mainstream"( 8). Genau diesen widmet sie sich. Mit Visionen ist angedeutet, dass es nicht primär um praktische Politik geht, sondern um Kommunikationssituationen, in denen sich ein neues Verhältnis von Einzelmenschen zum Internationalen statt nur zum Nationalen aufgetan hätte. Das knüpft explizit an einschlägige Studien von Benedict Anderson und Eric Hobsbawm an, geht aber doch insgesamt stärker in die Orte, Organisationen und Institutionen als in die "imagined communities".
Im Grund richtet sich Sluga gegen eine - behauptete - Dominanz der Nationen für Historiker und öffentliches Bewusstsein und will gleichsam kompensatorisch das Internationale als wenig beachtetes Korrektiv dagegen halten. Im engeren Sinne wendet sie sich gegen ein Narrativ etwa zum Völkerbund, das ganz vom Fernbleiben der USA charakterisiert sei, oder eines der UNO, in der ganz überwiegend die Großmachtrollen, zumal die der USA, im Vordergrund stünden. Der Rezensent wundert sich ein wenig über diese Befunde.
Der große Vorläufer von Slugas Studie ist Akira Iriye, der seit mehreren Jahrzehnten genau dieses Forschungsthema angemahnt und auch darstellerisch ausgefüllt hat, zuletzt in der bedeutenden "Geschichte der Welt" im Band "1945 bis heute" [1]. Sluga erwähnt seine Verdienste, ohne sich mit ihnen näher auseinanderzusetzen. M.E. hebt Iriye durchgängig stärker auf die Perspektive des Internationalen ab, die sich auch und gerade im Nationalen findet, während Sluga ein dialektisches Verhältnis beider Größen andeutet, ohne dies aber näher auszuführen.
Sluga macht vier große, chronologische Kapitel auf: The International Turn umfasst die "belle epoque" seit der Jahrhundertwende. Schwerpunkte sind die Haager Friedenskonferenzen, etliche transnationale Gesellschaften und Kongresse wie etwa der First Universal Races Congress von 1911 [2]. "Imagining Geneva. Between the Wars" legt großen Wert auf die Pariser Friedensverhandlungen und -schlüsse, dann vor allem auf die konkrete Arbeit des Völkerbundes, unterhalb der Schwelle der Großmachtpolitik, ein Thema, das im letzten Jahrzehnt geradezu einen Boom erfahren hat.[3] Julian Huxley oder W.E. du Bois sind hier einige der wichtigeren Protagonisten. Das reicht tendenziell bis zum Zweiten Weltkrieg. Das dritte Kapitel The apogee of internationalism geht auf die Entstehung und Wirkung der UNO in den Jahren 1945-1948 ein, berührt umfassende die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" mit Eleanor Roosevelt, Alva Myrdal und René Cassin, über den die Verfasserin schon klug publiziert hat. Das vierte Kapitel What is internationalism? setzt in den siebziger Jahren und mit dem - nach Sluga - von Iriye erstmals beobachteten Neuansatz an. In dieser "curious combination of the old and the new" (119), nicht zuletzt wegen der gleichzeitigen Zugkräfte des Universalen und Partikularen, werden im Schwerpunkt damals neue politik- und sozialwissenschaftliche Ansätze vorgestellt. Das Transnationale, die non-state actors und die international regimes hätten seither besonders für das Internationale sensibilisiert. Darüber hinaus ist hier von der (mit der Dekolonisierung verstärkt einsetzenden) UNO in der Dritten Welt die Rede. Der "Shock of the Global" - so ein bekannter Harvardsammelband, der aber an dieser Stelle nicht erwähnt wird [4] - sei ein Cultural Shock gewesen. Das "Window of oppurtunity", was sich für den Internationalismus geöffnet habe, sei in unserem Jahrhundert - Stichwort: 9/11 - schnell wieder geschlossen worden. Auch diese Diagnose überrascht, sehen doch andere Autoren eine sehr viel stärkere Kontinuität vom Aufbruch der siebziger Jahre bis heute. Erst im Afterword nimmt Sluga den Faden der Relation von Nationalem und Internationalem für den ganzen Zeitraum auf, spricht vom Post-Internationalism, versucht dies aber auch mit realistischer Betrachtungsweise mancher Politikwissenschaftler zu verbinden, weist diese jedoch nicht eo ipso zurecht.
Durchgehend ist es Sluga geglückt, einige sonst weniger beachtete Stränge zu bündeln. Dazu gehört neben Gender vor allem Race, also die recht unterschiedlichen Umgangsweisen hiermit auch unter Internationalisten, sodann Psychologie und Religion. Alles dies sind fruchtbare Kategorien, die in ähnlichen Zusammenhängen sonst oft wegfallen. Großen Wert legt sie auf die jeweiligen Öffentlichkeiten, die Menge an lokal kommunizierenden Menschen, die etwa in Den Haag 1899/1907, Paris 1919/20 oder in San Francisco 1945 zusammen kamen. Das habe neue Öffentlichkeiten geschaffen. Kaum jemand der Teilnehmer von Den Haag oder Paris habe später keine Memoiren geschrieben, heißt es arg verallgemeinernd - und diese Zeugnisse, auch die publizistischen Rezeptionen in den Ländern dienen der Autorin zur Illustration einer Bedeutung des Internationalen. Es fragt sich jedoch, ob die bloßen Teilnehmerzahlen und die mehr oder weniger begeisterten subjektiven Berichte wirklich etwas bewirkten; gerade jüngere Weltkonferenzen, etwa über Frauen oder Klima, vermögen da nicht allzu optimistisch zu stimmen. Doch gerade das ist Slugas Ansatz nicht.
Die Autorin sucht cosmopolitanism und internationalism zu scheiden, informiert auch über Weltstaats- oder Weltbürgerpläne wie -ansprüche; Pazifismus wird kaum erwähnt. Das Globale, die außereuropäische Welt bleibt dennoch blass, wenn sie von der Partizipation außereuropäischer, nicht nordamerikanischer Staaten auf den großen Konferenzen spricht. Das ist wohl dem genannten Fokus auf den liberal political mainstream geschuldet. So kann es geschehen, dass die beiden Weltkriege, der Kalte Krieg als solcher oder die Sowjetunion und damit andere Ordnungsmodelle ausgeklammert oder nur am Rande gestreift werden. Inwieweit ein "realism" damit zu tun hatte oder gar Erklärungskraft bereithielt, um die "spezifischen Momente" des Internationalismus nicht dauerhaft durchdringen zu lassen, wäre über diesen Ansatz hinaus zu fragen.
Ferner lässt sich bezweifeln, dass das Age of Nationalism so durchgängig dominierte: Bis nach dem Ersten Weltkrieg gab es Imperien in (Ost-)Europa, in Westeuropa behielten die Imperialmächte, u. a. Großbritannien und Frankreich, ihre Imperien bis mindestens um 1960. Ob sie heute keine Imperien mehr sein wollen oder können, wäre ebenso zu fragen, wie welches Etikett den USA zukomme oder wie neue Staaten in Afrika und Asien mit auf dem Reißbrett gezogenen Grenzen zu verorten wären. Gerade da gibt es reichhaltige jüngere Forschungen. Die Dichotomie verstellt den Blick auf komplexere Zusammenhänge.
Schließlich noch ein Wort zur Forschungsgrundlage: die Verfasserin stützt sich fast ausschließlich auf englischsprachige Literatur, wenn ich recht sehe, auf nur zwei französischen Bücher und auch dortige Archivquellen (ihre Cassin-Studien!). Obwohl sie auch im deutschen Wissenschaftsraum vernetzt ist, nimmt sie nichts davon zur Kenntnis. Das ist schade, aber leider gängig.
Insgesamt - daran sollte kein Zweifel bestehen - liegt hier ein kenntnisreicher Überblick über viele Facetten des Internationalismus in der westlichen Welt vor, der viel, aber nicht durchweg Neues bietet und damit ein weiterer Beitrag zu einem lange vernachlässigten Feld und vor allem einer Perspektive ist. Dafür ist der Verfasserin zu danken.
Anmerkungen:
[1] Akira Iriye / Jürgen Osterhammel (Hgg.): Geschichte der Welt, Bd. 6: 1945 bis heute. Die globalisierte Welt, München 2013, darin Iriye, Die Entstehung der transnationalen Welt, 621-826.
[2] Vgl. umfassend (1203 Seiten) Gabriele Schirbel: Strukturen des Internationalismus, First Universal Races Congress, London 1911, 2 Bde. Münster 1991.
[3] Vgl. mit ähnlichem Rahmen Sönke Kunkel / Christoph Meyer (Hgg.): Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren, Frankfurt a.M. u.a. 2012.
[4] Niall Ferguson / Charles S. Maier/ Erez Manela u.a. (eds.): The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge, MA/London 2010. Vgl. meine Rezension, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1; URL: http://www.sehepunkte.de/2012/01/18771.html
Jost Dülffer