Juliane Brauer / Martin Lücke (Hgg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven (= Eckert. Die Schriftenreihe; Bd. 133), Göttingen: V&R unipress 2013, 305 S., 12 Abb., ISBN 978-3-8471-0064-5, EUR 39,99
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Emotionen sind für die historische Wissenschaft schwierig zu fassen, das gilt auch für ihre Teildisziplin der Geschichtsdidaktik. Zuletzt hatte sie sich 1991 mit einer Tagung zu "Emotionen und historischem Lernen" befasst, doch deren langfristige Einflüsse auf geschichtsdidaktische Konzepte oder Lehrpläne waren sehr begrenzt. Dabei stellen Emotionen für das historische Lernen ein doppeltes Problem dar: Zum einen spielten Emotionen in der Geschichte oft eine wesentliche Rolle und durchliefen in ihrer Bedeutung starke Wandlungsprozesse. Zum anderen sind die Emotionen nicht nur auf der Objektebene, sondern auch für das lernende Subjekt wichtig und beeinflussen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in vielfältiger Weise. Der hier vorgelegte Sammelband, der auf eine am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 2011 durchgeführte Tagung zurückgeht, widmet sich dieser doppelten Problematik und alle Beiträgerinnen und Beiträger bemühen sich, den tief verankerten Dualismus von Emotion und Kognition zu überwinden.
Der Band beginnt nach einer Einführung der Herausgeber mit einer geschichtstheoretischen Standortbestimmung durch Jörn Rüsen, in denen er die Macht der Gefühle in den mentalen Prozessen des historischen Denkens am Beispiel des Trauerns theoretisch ergründen will. Eine zweite Gruppe von Beiträgen (Wolfgang Hasberg, Juliane Brauer, Martin Lücke) sucht nach dem systematischen Ort von Emotionen für das historische Lernen. Anschließend diskutieren Carlos Kölbl, Johannes Meyer-Hamme, Bärbel Völkel und Michele Barricelli in ihren Aufsätzen Kategorien und Konzepte aus der Emotionspsychologie bzw. untersuchen Emotionen als ein kulturelles Konstrukt. Fallstudien und grundlegende Erfahrungen mit emotionalen Begegnungen mit der Vergangenheit stehen im Fokus einer vierten Gruppe von Beiträgen (Vadim Oswalt, Alina Bothe und Rolf Sperling, Berit Pleitner, Matthias Heyl, Alfons Kenkmann und Bea Lundt), die von sehr divergenten Positionen aus die Relevanz von Emotionen für historisches Lernen bestätigen, aber teilweise auch sehr kritische Einwürfe gegen zu stark systematisierende und übertheoretisierende Ansätze formulieren.
Von den guten Beiträgen seien drei stellvertretend herausgehoben, darunter zunächst ein besonders kritischer und theoretisch überzeugender Aufsatz von Juliane Brauer. Ausgehend von einer Beschreibung von Empathie als soziale Praktik ergründet sie, wie sich Empathie und historische Alteritätserfahrungen beim historischen Lernen zueinander verhalten. Sie warnt davor, etwa bei der Gedenkstättenarbeit Empathie zu einer ethischen Norm und einem "moral sentiment" zu machen, da dies historisches Lernen vielmehr behindere als fördere. Brauer schlägt vor, Empathie eher als eine "produktive Irritation im Lernprozess" zu begreifen und nutzbar zumachen (89). Zu Recht versteht sie historisches Lernen als eigen-sinnig produktive Aneignung und sieht in der Empathie mit ihren Effekten von Parteinahme und Distanzierung eine besondere Chance, um die Andersartigkeit historischer Situationen und der in ihnen handelnden Akteure wahrzunehmen.
Weiter gehende Überlegungen, wie man das historische Lernen aus "seinem dualistischen Gefängnis" von ratio und emotio befreien könnte, führt Michele Barricelli unter der Fahne des von ihm verkündeten "narrativistischen Paradigmas" zusammen. Er erweitert seine bereits andernorts publizierte Typologie historischer Mustererzählungen um ihre jeweiligen emotionalen Geltungsbedürfnisse, weist also jedem Typ Mustererzählung bestimmte Emotionen zu.[1] Allerdings gelangt er zum Schluss, dass der Vernunftcharakter des historischen Erzählens selbst dann nicht zur Disposition stehe, wenn Historikerinnen und Historiker ihr Erzählwerk um emotionale Komponenten erweitern. Diese These bietet wohl noch beträchtliches Streitpotential.
Ein dritter Beitrag wird hervorgehoben, weil er weniger normativ-deduktiv, sondern induktiv vorgeht und nüchtern die Behandlung eines emotionsgeladenen Themas (Totaler Krieg und Kriegsende) in Geschichtslehrwerken analysiert. Vadim Oswald legt offen und kritisiert, wie (trotz dezidiert rational beschreibender Verfassertexte) durch die Auswahl von Textquellen und Fotographien, insbesondere aber durch die Aufgabenstellungen im Geschichtsunterricht "bestellte Gefühle" generiert werden sollen.
Was den Reiz und zugleich die größte Schwäche dieses Bands ausmacht, ist die große Heterogenität der verschiedenen Beiträge, die zu vielen Redundanzen, Überschneidungen und einander widersprechenden Bewertungen führt. Auf einige, das Thema nur marginal berührende Beiträge ohne echten Erkenntnisgewinn hätte man in diesem Band besser verzichtet, die Herausgeber wollten aber, wie in so vielen Tagungsbänden, niemanden mit einer Absage vor den Kopf stoßen. Das geht deutlich zu Lasten der Qualität. Denn insgesamt handelt es sich - zwei Jahrzehnte nach dem Auftakt einer geschichtsdidaktischen Auseinandersetzung mit Emotionen - nur um eine erneute Bestandsaufnahme, die die gehaltenen Vorträge in überarbeiteter Form sammelt. Eine inhaltliche Auseinandersetzung der Autorinnen und Autoren miteinander, mit den unterschiedlichen Verständnissen von Gefühlen, mit den theoretischen Konzepten und möglichen Schlussfolgerungen findet nicht statt. Trotz etlicher interessanter und stimulierender Ideen kommen sie nicht in einen wissenschaftlichen Dialog. Sehr gerne hätte man eine kritische Erörterung beispielsweise des von Martin Lücke in den Raum geworfenen Begriffs der "emotional communities" gelesen, das sicherlich noch ein großes Potential für konzeptuelle Reflextionen böte. Einen wesentlichen Zwischenschritt zur Klärung der Bedeutung von Emotionen für das historische Lernen vermag dieser Band noch nicht leisten. Zu viele Voraussetzungen sind noch nicht geklärt, was einige Autorinnen und Autoren aber nicht daran hindert, umfangreiche Systematisierungsversuche zu entwerfen.
Im Grunde trifft die Beobachtung des Gedenkstättenpädagogen Matthias Heyl noch immer ins Schwarze, dass man selbst im pädagogischen Milieu selten in der Lage sei, wirklich "mit einem diagnostischen Blick trennscharf zu differenzieren zwischen den verschiedenen, oft phänotypisch dicht beieinanderliegenden emotionalen Regungen" (251). Wie lassen sich Distanziertheit oder Erstarrung von Gleichgültigkeit und Langeweile trennen?
Anmerkung:
[1] Michele Barricelli: Narrativität, in: ders. / Martin Lücke (Hgg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1, Schwalbach/Taunus 2012, 255-280, hier 262.
Bernd-Stefan Grewe