Bart Fransen: Rogier Van der Weyden and Stone Sculpture in Brussels (= Distinguished Contributions to the Study of the Arts in the Burgundian Netherlands; Vol. 2), Turnhout: Brepols 2013, 241 S., 170 Farb-, 65 s/w-Abb., ISBN 978-1-909400-15-3, EUR 100,00
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Norbert Wolf: Deutsche Schnitzretabel des 14. Jahrhunderts, Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft 2002
Das anzuzeigende Buch ist eine überarbeitete und ins Englische übertragene Fassung der an der Löwener Universität im Jahr 2009 eingereichten Dissertation. Entstanden ist ein schlanker Band mit zahlreichen meist hervorragenden Abbildungen im angenehmen Layout. Während der Titel noch neutral von Rogier van der Weyden und der zeitgenössischen Bildhauerkunst in Brüssel handelt, liegt der Fokus auf der vermeintlichen Rolle, die der Maler mit seiner Werkstatt für die Entwurfsprozesse der zeitgenössischen Bildnerei gespielt haben soll. So ist denn auch das letzte und zugleich interessanteste der vier Kapitel mit: "Rogier van der Weyden in 3D" betitelt (145-190).
Damit betritt der Verfasser allerdings kein Neuland. Denn immer wieder wurden in Ausstellungen und Publikationen plastische Bildwerke neben Zeichnungen und Gemälde des aus Tournai stammenden Malers gestellt. Bereits publiziert sind auch die hier zusammengestellten Quellen, die Rogier im Kontext skulpturaler Programme greifbar werden lassen. Welchen Anspruch verfolgt also die Arbeit?
In der lediglich fünf Seiten umfassenden Begründung und Einführung, die die bereits bestehende Forschung nur unzureichend abbildet, überrascht der Autor mit der Absicht, für den gattungsübergreifenden Vergleich ausschließlich Bildwerke in Stein heranzuziehen. Tatsächlich hat die Steinskulptur gegenüber den in größerer Zahl überlieferten Schnitzarbeiten ein Schattendasein geführt. Die Kenntnis von der Bildhauerkunst blieb zudem beeinträchtigt durch eine auch wissenschaftsgeschichtlich begründete Dominanz der zeitgenössischen Buch- und Tafelmalerei. Es ist also sehr zu begrüßen, hier eine erste Übersicht der noch vorhandenen Steinbildwerke zu erhalten. Zu diesem Zweck versammelt das dritte und umfassendste Kapitel der Arbeit insgesamt sechs sogenannte Fallstudien (39-144) der Bildhauerei zur Zeit Philipps des Guten.
Beweggründe für die Fokuslegung auf die Steinbildwerke dürften auch die gute Quellenerschließung und neuere petrografische Untersuchungen gewesen sein, die die Bedeutung und Verbreitung einzelner Stein-Varietäten, insbesondere des Steins von Avesnes, sehr gut abbilden. Das zweite Kapitel (17-38) liefert daher einen konzisen und hilfreichen Überblick zu den Besitzern der Brüche, den Händlern, schließlich den Steinmetzen und Bildhauern und deren Gilden. Zudem überliefern zahlreiche Steuerlisten, Verträge und Einträge in den Zunftrollen eine große Zahl von Namen.
Die Quellenlage ist daher als relativ gut zu bewerten. Anders verhält es sich mit der unmittelbaren Zuordnung einzelner Objekte oder Ensembles an bestimmte "Steenbickeleren". Bart Fransen muss sich nolens volens auf das Feld der Stilkritik bewegen. Dies ist beim ausgedünnten Denkmalbestand nicht unproblematisch. Heikel wird es, wenn man forciert der Absicht nachgeht, der Brüsseler Bildhauerei partout ein erkennbares Profil verleihen zu wollen. So wünschenswert dies wäre, muss man doch konstatieren, dass der Autor durch sein methodisches Vorgehen weder vor Zirkelschlüssen noch vor reinen Konjekturen gefeit war. Dies betrifft insbesondere jene Fallbeispiele aus den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, in denen das zur Mitte des Saeculums prägende Stilidiom der Kunst van der Weydens noch nicht dominierte.
So wurde bislang die in der ersten Fallstudie verhandelte Muttergottes aus der Prämonstratenserabtei in Tongerlo unter dem Einfluss der Schule von Tournai gesehen. Nun existieren aber zwei Quellen, die von einer Lieferung einer Figur dorthin im Jahr 1422 aus Brüssel berichten. Die Annahme, dass es sich dabei um die überlieferte Figur handelt, bleibt bei aller Plausibilität eine Konjektur. Im Laufe des Kapitels setzt sich beim Autor aber die Grundannahme durch, dass an einer Brüsseler Herkunft nicht zu zweifeln sei. Per se ist gegen diese Annahme nichts einzuwenden. Der Wunsch der Werkstatt in Brüssel ein Gesicht zu geben, gebiert aber problematische Ergebnisse. So vergleicht der Verfasser in einer stilkritischen Beschreibung, die wissenschaftlichen Kriterien kaum standhalten dürfte, die Marienfigur in Tongerlo mit der Nordportalmadonna der Stiftskirche in Hal - mit der Folge, Letztere in einem klassischen Zirkelschluss ebenfalls zu einem Brüsseler Werk zu machen (45f.).
Im Rückspiegel der Jahrhundertmitte betrachtet der Verfasser Brüssel schon um 1420 als bedeutendes künstlerisches Zentrum. So wird er nicht müde zu betonen, wie innovativ das tongerlo'sche Werk sei. Zu diesem Zweck verweist er auf das rege, sich von der Mutter wegbewegende Kind. Er verkennt dabei allerdings die Traditionslinie des Motivs, die über lothringische Madonnen des frühen 14. Jahrhunderts (im Chortriforium der Kathedrale von Langres oder in Berlin, Skulpturensammlung, Inv. Nr. 7689) bis ins nahe gelegene Mons verfolgt werden kann (Sainte Waudru, Epitaph des Lancelot de Bertaimont).
Wie gesagt, muss Brüssel in den Augen des Autors ein kreativer 'melting pot' gewesen sein. Hier wurden die Arbeiten eines Jean Delemer mit jenen des André Beauneveu amalgamiert. So verwundert es nicht, dass Fransen in der Madonna aus Tongerlo Stilelemente auch des älteren Bildhauers wiedererkennt. Zu diesem Zweck verweist er auf eine von ihm um 1400 datierte Katharinenfigur in Anderlecht bei Brüssel. Es irritiert aber ungemein, dass der Verfasser weder auf die umfänglichen Ergänzungen und Überarbeitungen des 19. Jahrhunderts hinweist, noch auf die sehr viel frühere Datierung, um 1330/40, die Robert Didier vorgeschlagen hat.
Obgleich die hierzu relevante Literatur in den Anmerkungen genannt wird, findet eine Auseinandersetzung mit ihr nicht statt. Auch an anderer Stelle fällt auf, dass der Verfasser anderslautenden oder schlicht bereits früher gemachten und ihm eigentlich entgegenkommenden Beobachtungen kaum Gewicht beimaß. So darf darauf hingewiesen werden, dass bereits 1975 Adelin de Valkeneer in einem in Löwen erschienenen Aufsatz die Grabbilder in Beersel der Jacqueline de Glymes und Guillaume II de Witthem zuordnete.
Neben diese Unstimmigkeiten und die äußerst 'geradlinige' Beweisführung tritt ein weiterer Punkt, der den ersten Teil des Buchs zu einer problematischen Lektüre macht. Die Fixierung auf die beim Maler liegende Urheberschaft im Formalen verschattet die Frage nach der Qualität der ausgeführten Skulpturen. Ist angesichts der Mediokrität der Konsolsteine in Scheut zwingend auf einen Entwurf aus der Werkstatt des berühmten Stadtmalers zu schließen? Angesichts der schlichten Komposition und der grob- und großflächigen Gestaltung der Draperien könnte man stattdessen an ein umlaufendes Motivrepertoire denken, das sich, überspitzt formuliert, auch beim Maître de Wavrin wiederfindet.
Fransen liefert leider erst in seinem abschließenden Kapitel einen späten, dafür aber sehr willkommenen Überblick der Korrelationen zwischen dem Maler und der Bildhauerei (148-155). Daraus geht hervor, dass Rogier nur als Fassmaler aktenkundig ist. Allerdings sind aus der Werkstatt eine Abrollung des sogenannten Scupstoel für das Rathaus in Brüssel und eine Entwurfsskizze des Schreins von Laredo überliefert. Dies ist recht wenig. Daher fallen in den Quellen auch Leerstellen auf, die freilich von Fransen nicht thematisiert werden. So ist es noch immer eine offene Frage, wer für die Entwürfe der Grabmäler verantwortlich zeichnete, die Philipp der Gute für Lille und Brüssel in Auftrag gab. Auch hier wurde Rogier neben Jean Delemer und Jacob van Gerines lediglich (?) als Fassmaler entlohnt.
Völlig ausgeblendet wird also im Buch die mögliche Rolle, die auch der Bildhauer als Zeichner und Concepteur eingenommen haben konnte. Mit Claus Sluter, der einen wohl maßstabsgerechten Riss des Großen Brunnens anfertigte, und den zum Teil erhaltenen Visierungen kleiner und großer Retabel können Bildhauer als Entwurfszeichner benannt werden. So sind denn auch Zweifel angebracht, ob das Paradestück der Argumentation, nämlich die berühmte Pariser Zeichnung einer Grablegung, tatsächlich der Entwurf für das fast gleichlautende Holzrelief in Detroit ist (165ff.). Denn betrachtet man die Positionierung der Auszüge in der Zeichnung, kämen für die Anbringung des Grablegungsreliefs nur die Innenseiten der Flügel eines Retabels in Betracht. Diese Anbringung hätte aber eine Teilung des Leibes Christi zur Folge. Es bleibt daher zu fragen, wie genau eine Zeichnung im Dreidimensionalen umgesetzt werden sollte.
In der Summe hat das Buch aber doch seine Verdienste. Die Wissenschaft mit der rogierzeitlichen Skulptur bekannter zu machen ist wichtig. Das hier nochmals zusammengetragene Quellenmaterial und das zusammengestellte Konvolut an Zeichnungen wird man zudem nützlich finden, wenn man sich der Frage nach dem Entwurfsprozess in der Bildhauerkunst unvoreingenommen nähern möchte. In der Besprechung zu kurz kamen auch einige sehr überzeugende Nachweise enger Korrelationen zwischen Bauskulptur und Motivrepertoire der van der Weyden-Werkstatt (bes. 167ff.). Es überwiegt aber die Skepsis. Denn trotz der vom Verfasser angebotenen stark getönten Brille, bleibt das Werk des Rogier van der Weyden in 3D letztlich unscharf.
Michael Grandmontagne