Monique Boutry (ed.): Petrus Cantor Parisiensis. Verbum adbreviatum. Textus prior (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; CXCVI A), Turnhout: Brepols 2012, XLVI + 835 S., 2 Farbabb., ISBN 978-2-503-54007-8, EUR 455,00
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Monique Boutry (ed.): Petrus Cantor Parisiensis. Verbum adbreviatum. Textus alter (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; CXCVI B), Turnhout: Brepols 2012, XIV + 725 S., ISBN 978-2-503-54008-5, EUR 380,00
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William O. Duba / Russell L. Friedman / Christopher Schabel (eds.): Studies in Later Medieval Intellectual History in Honor of William J. Courtenay, Leuven: Peeters 2017
Norman H. Reid: Alexander III 1249-1286. First Among Equals, Edinburgh: Birlinn 2019
Lesley Smith: Fragments of a World. William of Auvergne and His Medieval Life, Chicago: University of Chicago Press 2023
Verbum adbreviatum - mit diesem Zitat aus dem Römerbrief (Rm 9,28: "Ein Wort nämlich, wird der Herr, erfüllend und verkürzend, auf der Erde ausführen") eröffnet Petrus Cantor (gestorben 1197) seine wohl wirkmächtigste Schrift, deren fundamental- und moraltheologischer Zuschnitt bei vielen Zeitgenossen auf großes Interesse stieß. Petrus, ausgebildet an der Domschule zu Reims, amtierte ab 1183 als Kantor an der Pariser Kathedrale und wurde zwei Mal zum Bischof gewählt, ohne die bischöfliche cathedra zu besteigen: die Wahl zum Oberhirten von Tournai 1192 wurde nicht bestätigt, diejenige zum Bischof von Paris 1196 lehnte er selbst ab. Mit ihm griff also kein einfacher, an der Pariser Domschule lehrender magister zur Feder, sondern ein hochgebildeter, einflussreicher und angesehener Kanoniker. Zwei schwergewichtige Bände, in denen sich unterschiedliche Versionen seines Hauptwerks ediert finden, erschienen nahezu zeitgleich im Jahr 2012, dürfen freilich nicht gesondert betrachtet werden. Zusammen mit der bereits 2004 erschienenen Langversion des Verbum adbreviatum, dem Textus conflatus, für den dieselbe Editorin verantwortlich zeichnet, bilden alle drei Bände eine Art Triptychon, das von der lebenslangen Beschäftigung des Autors mit seinem Text zeugt.
Man ahnt es: drei sich fundamental voneinander unterscheidende Versionen eines Textes lassen auf verwickelte Überlieferungsverhältnisse schließen. Die komplizierte Textgenese war zwar bekannt, als die Editorin in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit ihrer Arbeit begann. Allerdings lag ein umfassendes überlieferungsgeschichtliches revirement in der Luft, als Boutry im Laufe ihrer Arbeit an der Langversion die Thesen von John W. Baldwin bezüglich der Textentstehung mit überzeugenden Argumenten entkräften konnte. Baldwins Frühdatierung des Textus conflatus wurde von ihr zugunsten einer Spätdatierung mit sehr guten Gründen verworfen. Dies änderte zwar nichts an der Autorschaft des Petrus, doch sind im Textus conflatus der Beitrag und die Bedeutung der verschiedenen Redakteure mit ihren jeweiligen Glossen sehr viel höher einzustufen als in den früher entstandenen Fassungen, die ihrerseits eben keine mehr oder minder starken Überarbeitungen des Langtextes darstellen. Im Gegenteil: im Textus prior, der Kurzfassung des Verbum adbreviatum, erkannte Boutry die älteste Version.
39 Handschriften überliefern den Textus prior (eine signifikante Reduktion verglichen mit den 55 Textzeugen, die noch in der Einleitung zum Textus conflatus aufgelistet waren), von denen sieben - zumeist die ältesten - Grundlage der vorliegenden Edition waren (Cambridge, St John's College Library, ms. 30, f. 26r-109v (1210-1220); Oxford, Bodleian Library, ms. Bodl. 864 (SC 2735), f. 1r-68r (1210-1220); Paris, BnF, ms. lat. 1000, f. 61r-152r (1215-1220); Paris, BnF, ms. lat. 3245 A, f. 1v-105v (Anfang 13. Jahrhundert); Paris, BnF, ms. lat. 3247, f. 1r-130v (um 1200); Paris, BnF, ms. lat. 13433-13434 (um 1210); Paris, BnF, ms. lat. 15101, f. 147r-273r. Der Textus alter hingegen ist vollständig nur in einer einzigen Handschrift, in Teilen in einer weiteren überliefert (Melun, Bibliothèque municipale 17; Douai, Bibliothèque municipale 389).
Das Vorwort zum Textus prior besticht durch ausführliche Handschriftenbeschreibungen (IX-XLI). Keine einzige trägt einen Autorennamen oder einen Titel: zur Zeit, als diese Zeugen des Textus prior kopiert wurden, war ein Verweis auf den Kantor von Notre-Dame wohl unnötig: man kannte ihn und seinen Text. Was die Handschriften untereinander verbindet, ist ihr äußeres Erscheinungsbild: nahezu alle sind "d'une grande sobriété" (IX). Die Kurzfassung des Verbum adbreviatum verbreitete sich innerhalb von nur 50 Jahren rasch in einem Gebiet, das Paris, die Ile-de-France, Nordfrankreich und das anglonormannische Königreich umfasste. Bei keiner der sieben überlieferten Handschriften handelt es sich um das Originalmanuskript bzw. eine Abschrift desselben. Der Textus alter hingegen wird auf den Zeitraum zwischen 1197-1200/1210 datiert, wobei sich der terminus a quo aus dem Tod des Petrus Cantor (im Text erscheint er im Imperfekt: Dominus Cantor habebat etc.), der terminus ad quem aus der Datierung der Handschrift ergibt.
Eine editorische Herausforderung in beiden Versionen war der Umgang mit den sogenannten Additiones, den Glossen zum Text z.T. von gleicher, z.T. von anderer Hand, die sich vor allem an den Seitenrändern finden und wohl - so die Editorin - auf Mitschriften (reportationes) von Schülern zurückgehen dürften, die den Vorlesungen ihres Magisters lauschten. Sie wurden im Falle des Textus prior nicht in den fortlaufenden Text aufgenommen , sondern finden sich unter Angabe des jeweiligen Kapitels und der jeweiligen Zeile in einem Anhang abgedruckt. Die Stelle, an der diese Ergänzungen in den Handschriften auftauchen, wurde durch das Zeichen + am Rand des Haupttextes an der entsprechenden Zeile markiert. Als Orientierungshilfe ausgesprochen nützlich sind die in jedem Kapitel zu findenden Verweise auf die Edition von Migne einerseits (linker Rand) und diejenigen des Textus alter bzw. Textus conflatus andererseits (rechter Rand).
Was findet nun der Historiker in diesem Werk, das - und dieses Schicksal teilt es mit den Sentenzen des Petrus Lombardus - zwar häufig zitiert, aber nur selten gelesen wird? Die 137 Kapitel des Textus prior umspannen einen weiten thematischen Bogen, der von c. 1 Contra superfluitatem glosarum et inutilium expositionum, über c. 73 Contra mollientes arcum sacre Scripture bis hin zu c. 137 De gaudio et premiis beatitudinis eterne reicht. Petrus Cantor gehörte (wohl zu Recht) nicht zu den herausragenden Predigern in Frankreich um die Wende zum 13. Jahrhundert, doch täte man ihm Unrecht, würden seine Fähigkeiten alleine als diejenigen eines umsichtigen Schulmannes charakterisiert. Deutlicher noch als im Textus prior kommen die Fähigkeiten des Petrus Cantor im Textus alter zum Tragen. Der Inhalt variiert in beiden Versionen zwar kaum, trotzdem ist im Textus alter eine Weiterentwicklung feststellbar: Petrus Cantor geht dort sehr viel stärker auf die Bedürfnisse einer Rezipientenschicht ein, die homiletische Unterweisung zu schätzen weiß und wohl selbst mit der Predigt betraut ist. Die Indizien sind eindeutig: die Präsenz von Exempla, die mitunter kettenartig aneinander gebunden werden, vervielfacht sich. Werden Fragen formuliert, finden sich diese in Anlehnung an eine klassische disputatio ausgeführt. Der Textus alter enthält 102 Kapitel, in denen unterschiedliche zeitgenössische gravamina Behandlung finden: Kleriker, die ihre Amtpflichten vernachlässigen stehen im Zentrum von Kapiteln wie Contra munerum accepcionem, Contra fraudes prelatorum, Contra missarum multiplicacione, Contra indigne Eucaristiam tractantes oder auch De peste simonie. Prediger finden Anregungen, aber auch Ermahnung in Kapiteln wie De pessima taciturnitate, De bona taciturnitate oder De fluxu lingue. Breit abgehandelt finden sich auch die Sieben Werke der Barmherzigkeit, deren Präsenz die Stoßrichtung des gesamten Werks verdeutlichen mag: es dient der Information über moral- bzw. fundamentaltheologische Sachverhalte und bildet die Basis dessen, worauf ein Prediger bei seinen Predigtvorbereitungen zurückgreifen konnte.
Die Edition arbeitet im Fall des Textus prior mit drei Apparaten: neben einem apparatus biblicus und einem apparatus fontium findet sich der apparatus criticus. Im Fall des Textus alter tritt noch ein vierter Apparat in Gestalt eines apparatus marginalium hinzu, der im Vergleich zur Kurzversion, wo diese Angaben in einen Anhang verschoben wurden, einen unbestreitbaren Vorteil hat: die Marginalglossen lassen sich ohne umständliches Blättern unmittelbar nachvollziehen. Die editorische Qualität beider Bände ist über jeden Zweifel erhaben - ganz offensichtlich hat das Verbum adbreviatum eine Bearbeiterin gefunden, die nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Text in der Lage war, nachvollziehbare und in allen Fällen gut begründete editorische Entscheidungen zu treffen.
Es bleibt zu wünschen, dass die Forschungen zu und über Petrus Cantor nun wieder neuen Auftrieb erhalten - dies setzt freilich voraus, dass Bibliotheken die beiden Bände auch tatsächlich anschaffen. Angesichts der exorbitanten Kosten liegt dies nicht (mehr) unmittelbar auf der Hand.
Ralf Lützelschwab