Manuel Köster: Historisches Textverstehen. Rezeption und Identifikation in der multiethnischen Gesellschaft (= Geschichtskultur und historisches Lernen; Bd. 11), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, 303 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-643-12332-9, EUR 34,90
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Die Rezeption von Darstellungstexten stellt im Geschichtsunterricht neben der Quellenanalyse eine der Grundkonstanten des historischen Lernens dar. Seien es nun Verfassertexte der Schulbuchautoren oder (in einer wissenschaftspropädeutischen und auf Kontroversität abzielenden Ausrichtung des Unterrichts) Ausschnitte aus bedeutenden Werken von Historikerinnen und Historikern; die Texte bilden in beiden Fällen den Kern zum Aufbau deklarativen Wissens und sollen (so die Theorie) von den Schülerinnen und Schülern im Hinblick auf ihre Argumentationsgänge und oftmals divergierenden Aussagen über die Historie methodisch ähnlich kritisch dekonstruiert werden wie Quellentexte.
In seiner Münsteraner Dissertationsschrift stellt der Geschichtsdidaktiker Manuel Köster diesem hehren Ziel nun eine eingehende empirische Prüfung entgegen, in der er davon ausgeht, dass die Rezeption von Darstellungstexten von bereits ausgebildeten historischen Werturteilen bestimmt wird, die die Wahrnehmung der in den Texten verhandelten Themenbereiche steuern. Als Probanden seiner Studie wählte er Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund. Kösters Studie greift damit in einem doppelten Sinne aktuelle geschichtsdidaktische und unterrichtspragmatische Problemfelder auf: zum einen die erneute Hinwendung der Geschichtsdidaktik zur Sprache und Narrativität, zum anderen die zunehmende Heterogenität in deutschen Klassenzimmern.
In der theoretischen Rahmung seiner Studie greift Köster auf Überlegungen zum Textverstehen als dynamischen Prozess mentaler Kohärenzbildung von Wolfgang Schnotz zurück, um diese in einem zweiten Schritt mithilfe von Karl-Ernst Jeismanns Überlegungen zur Bedeutung von Werturteilen für das historische Lernen zu erweitern. Empirisch geht der Autor in einem Zweischritt vor: Zunächst wertet er in einer quantitativen Teilstudie die Ergebnisse eines von ihm entwickelten Fragebogens aus, der von insgesamt 272 Schülerinnen und Schülern ausgefüllt wurde. Dieser umfasst beispielsweise Fragen zum soziokulturellen Hintergrund der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, zum deklarativen Wissen im Themenfeld "Nationalsozialismus", zu den Werturteilen der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf die Verantwortung am Holocaust und zum methodologischen Schülerwissen im Bereich der historischen Text- und Quellenanalyse. Ziel der Auswertung ist zum einen eine Kategorisierung der Probanden, zum anderen eine Untersuchung über den Zusammenhang von Migrationserfahrungen, Identitätskonstrukten und Positionierung gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus. Die Ergebnisse schildert Köster äußerst differenziert. Er möchte aber, ob der Komplexität seiner Fragestellung, keine generalisierenden Thesen formulieren, da "das Vorhandensein eines Migrationshintergrundes [...] ebenso wenig automatisch zum Vorhandensein bestimmter Werturteilsschemata [führt] wie die Frage, welchem Land sich die Jugendlichen zugehörig fühlen." (76)
In einem zweiten Schritt analysiert der Autor Interviews mit 50 Schülerinnen und Schülern. Diese lasen während des Interviews zwei Texte zum Themenbereich Nationalsozialismus mit divergierender Aussage: Zum einen einen kurzen Ausschnitt aus Daniel Goldhagens Monografie "Hitlers willige Vollstrecker" [1], zum anderen einen vom Autor selbst verfassten Text über die vermeintliche propagandistische Verführung der Deutschen durch Adolf Hitler, der den apologetischen Blick auf die Frage nach der Verantwortlichkeit breiter Bevölkerungsteile am Holocaust repräsentieren soll. Auf der Grundlage der Auswertung dieser qualitativen Teilstudie entwickelt der Autor Antworten auf die Frage nach den Auswirkungen von bestehenden historischen Werturteilen und Identitätsbedürfnissen auf das Textverstehen. Das für den Geschichtslehrer und -didaktiker recht ernüchternde Ergebnis zeigt, dass gerade Goldhagens Text bei den Schülerinnen und Schülern nur in Ansätzen erfasst oder gänzlich missverstanden wurde. Köster erklärt dies mit der Tatsache, dass sich dessen explizite Aussagen mit den vorhandenen (zumeist apologetischen) Werturteilen und Identitätskonstrukten der Schülerinnen und Schüler widersprachen. Insgesamt entwickelt der Autor vier Muster, die die Probanden nutzten, um auch mit Goldhagens Text ihre vorhandenen Werturteile zu bestätigen: eine Dichotomisierung von "den Deutschen" und "den Nazis", eine fragwürdige Anwendung von prozedualem Wissen, in der Goldhagen ob seines jüdischen Hintergrunds eine wissenschaftliche Sicht auf den Holocaust abgesprochen wird, eine Personalisierung des Holocausts auf die Person Hitlers und schließlich den Versuch, eine Balance zwischen den Aussagen Goldhagens und bestehenden Werturteilen zu konstruieren. Letztere macht Köster vor allem bei Schülerinnen und Schülern mit einem deutschen und einem nichtdeutschen Elternteil aus.
Kösters umsichtige Formulierungen lassen die Ergebnisse seiner Studie äußerst differenziert werden, sie führen aber zugleich zu einer gewissen Thesenarmut seiner Monografie. Es fällt dem Autor sichtlich schwer, einzelne Thesen zusammenführend zu verdichten. Zudem fragt sich der Leser stellenweise, ob vorhandene Werturteile der Probanden wirklich der entscheidende Faktor für das Missverständnis der Aussagen Goldhagens sind oder ob nicht auch der divergierende Schwierigkeitsgrad der beiden Texte daran einen Anteil hat. Während der vom Autor selbst verfasste Text in seiner Semantik und seinem Aufbau einem Schulbuchtext ähnelt, wirken Goldhagens Ausführungen in ihrem hypotaktischen Stil bedeutend sperriger.
Diese kritischen Anmerkungen sollen aber den Wert von Kösters Studie auch für weitere geschichtsdidaktische Überlegungen nicht schmälern. Gerade die vom Autor angeführte Kompetenzdebatte, in welcher der Autor an das Kompetenzmodell der FUER-Gruppe anschließt, kann fruchtbare Ansätze bieten: Denn wenn ein wesentliches Ziel des Geschichtsunterrichts die Ausbildung einer Orientierungs- respektive Re-Organisationskompetenz darstellt, die von den Schülerinnen und Schülern verlangt, das eigene Geschichtsbewusstsein zu reflektieren und zu erweitern, dann zeigen die Ergebnisse von Kösters Studie hier einen wesentlichen Optimierungsbedarf des Geschichtsunterrichts. Wenn, wie der Autor darstellt, die das Verständnis von Darstellungstexten durch vorhandene kognitive Schemata entscheidend gehemmt wird, dann muss die Geschichtsdidaktik in der Zukunft Methoden und Arbeitsformen entwickeln, die diese Hemmungen berücksichtigen bzw. ihnen begegnen.
Anmerkung:
[1] Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1998.
Benjamin Städter