Dirk Petter: Auf dem Weg zur Normalität. Konflikt und Verständigung in den deutsch-französischen Beziehungen der 1970er Jahre (= Pariser Historische Studien; Bd. 103), München: Oldenbourg 2014, 395 S., ISBN 978-3-486-76386-7, EUR 49,95
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Im deutsch-französischen Verhältnis, so meldete der Bonner Botschafter Axel Herbst Mitte September 1979 aus Paris, vollziehe sich ein "kopernikanischer Wandel"! Das Klischee vom Erbfeind weiche "zunehmend der Einsicht der Notwendigkeit deutsch-französischer Zusammenarbeit [...], die den Boden für gutnachbarliche, ja freundschaftliche Beziehungen bereitet". Allerdings, so fügte Herbst warnend hinzu, gebe es unter der freundlichen Oberfläche "immer noch Vorbehalte gegen Deutschland" [1] Ganz ähnlich hatte sein französischer Kollege am Rhein, Jean-Pierre Brunet, im Juli desselben Jahres geurteilt: "Il faut cependant bien avoir conscience du caractère encore fragile de notre rapprochement. Les anciennes méfiances n'ont pas disparu" (11).
Über die Gründe und Ursachen der von beiden Spitzendiplomaten Ende der 1970er Jahre diagnostizierten Diskrepanz zwischen guten, bisweilen sehr guten Beziehungen auf der gouvernementalen Ebene und konfliktreichen auf der zivilgesellschaftlichen sind wir historiographisch trotz wegweisender Studien [2] nur unzureichend unterrichtet. Diese Lücke schließt nun weitgehend die von der Universität Kiel im Wintersemester 2011/12 angenommene Dissertation von Dirk Petter. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht das damalige "Spannungsverhältnis zwischen einem einerseits von staatlichen wie gesellschaftlichen Akteuren formulierten Anspruch, Verständigung zu schaffen, und regelmäßig hervorbrechenden deutsch-französischen Kontroversen andererseits" (16).
Auf breiter, wiewohl keineswegs erschöpfender Literaturbasis [3] und unter Auswertung der relevanten Akten in 15 deutschen und französischen Archiven entfaltet Petter zunächst die "Infrastrukturen der Annäherung" (37) zu Beginn der 1970er Jahre, d.h. die maßgeblichen kulturpolitischen Institutionen, privaten Verständigungsorganisationen und Mittlerpersönlichkeiten. Im eigentlichen Hauptteil analysiert er sodann akribisch das Wirken der "Protagonisten der Verständigung" (15) und ihre Bedeutung in den mannigfachen Phasen öffentlicher Zerwürfnisse. Konkret geht es um die von der Bonner Ostpolitik genährten Pariser Ängste vor einem neutralisierten, wiedervereinigten Deutschland, um Frankreichs Furcht vor einer westdeutschen Hegemonialstellung in Westeuropa, um die französischen Reaktionen auf den Umgang der Bundesrepublik mit den Gräueltaten der Nationalsozialisten und auf den westdeutschen Kampf gegen den Terror der Rote Armee Fraktion.
Sämtliche Kapitel weisen ein geradezu stereotypes Muster auf: Auf eine "Mobilisierung alter Feindbilder", die in der Öffentlichkeit "zu kaskadenhaften Folgen von Verdachtsmomenten und Verteidigungsreflexen" führten, reagierten die "Kräfte der Verständigung" (239) mit diversen Aktivitäten, die "die Gefahr einer unheilvollen Wendung des deutsch-französischen Verhältnisses" eindämmen sollten (101). Während die staatlichen Kulturinstitute, das Deutsch-Französische Jugendwerk, der Deutsche Akademische Austauschdienst, das Goethe-Institut und die Instituts Français auf Fremdsprachenförderung und Hochschul- bzw. Wissenschaftsbeziehungen setzten, trachteten die bilateralen Gesellschaften, das "Bureau international de liaison et de documentation" und das Ludwigsburger "Deutsch-Französische Institut" danach, führende Persönlichkeiten zum offenen Gespräch zusammenzubringen. Brückenbauer wie Alfred Grosser, Pierre Bertaux oder Joseph Rovan wiederum betätigten sich unermüdlich als "geistige Wegbereiter der Annäherung" (68), indem sie Aufklärungsarbeit leisteten und das Verständnis für den jeweils anderen zu vertiefen versuchten.
Immer wieder fühlten sich die Protagonisten der Verständigung gleichsam wie Sisyphus, reichten doch einige wenige Zeitungsartikel aus, um die "Geister deutsch-französischer Feindseligkeiten" zu neuem Leben zu erwecken (144). Mochte die "bonne entente" auf der Ebene der Regierungen auch reibungslos funktionieren, überwogen in weiten Teilen der Presselandschaft alte Klischees und Vorurteile. Im Deutschen Herbst des Jahres 1977 kam es geradezu zu einer "Atmosphäre nahezu vollkommenen wechselseitigen Unverständnisses" (243). Gegen Ende der Dekade hatten die Akteure der Verständigung sich einzugestehen, "dass es ihnen kaum gelungen war, die Konflikte [...] wirkungsvoll einzudämmen" (261). Ernüchterung machte sich breit, sogar die Sorge, dass das beiderseitige Verhältnis an einem "Scheidepunkt" stehen könnte (272).
Aus diesem Gefühl heraus bahnten beide Regierungen anlässlich des Staatsbesuchs von Valéry Giscard d'Estaing im Juli 1980 und seines Gipfeltreffens mit Helmut Schmidt im Februar 1981 eine Initiative zur Revitalisierung des bilateralen Verhältnisses an. Ihre "verständigungstheoretischen Sandkastenspiele", so führt Petter dem Leser mit spitzer Feder vor Augen, zielten auf eine "Kehrtwende hin zur Etablierung eines funktionierenden grenzüberschreitenden Dialogs", dem dann "ein wirkliches Kennenlernen des bislang weitgehend unbekannten Partners" folgen sollte (321). Der verordnete Aufbruch sollte indes erst sechs Jahre später und nach zwei Regierungswechseln in Bonn und Paris einsetzen. Petters Gesamtbewertung kann daher nur zugestimmt werden: Das Positive am deutsch-französischen Miteinander der 1970er Jahre war der ausgebliebene "Rückfall in die Feindschaft vergangener Zeiten" (334).
In dreierlei Hinsicht meldet der Rezensent indes leise Kritik an der lesenswerten Studie an - sowohl in Bezug auf die Ausgangsbasis als auch hinsichtlich der Schlussfolgerungen. Petters Grundannahme, dem "Umbruch" (322) der 1970er Jahre sei eine "Epoche einer glücklich vollzogenen Freundschaft" (323) vorausgegangen, kann nur sehr eingeschränkt zugestimmt werden, wie ein Blick auf die öffentlichen Debatten im Zuge der "Krise des leeren Stuhls" 1965/66 oder während der Währungskrise 1968 verdeutlichen mag. Durchaus fragwürdig erscheint außerdem die These, dass es der "Epoche der offenen Konfrontation" bedurfte, um zu einem "verträglichen Gleichgewicht" in den deutsch-französischen Beziehungen zu finden. Und schließlich sollte man sich angesichts der Bedeutung des beiderseitigen Verhältnisses nicht mit dem Befund begnügen, dass "wechselseitige Gleichgültigkeit" auch "geringere Konfliktanfälligkeit" bedeutet (334).
Anmerkungen:
[1] Archiv der sozialen Demokratie Bonn, Helmut-Schmidt-Archiv, Mappe Nr. 8854, Aufzeichnung von Axel Herbst, 19.9.1979.
[2] Grundlegend Claudia Hiepel: Willy Brandt und Georges Pompidou. Deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise, München 2012; Hélène Miard-Delacroix: Partenaires de choix? Le chancelier Helmut Schmidt et la France (1974-1982), Bern u. a. 1993; Matthias Waechter: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing. Auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre, Bremen 2011; Andreas Wilkens: Der unstete Nachbar. Frankreich, die deutsche Ostpolitik und die Berliner Vier-Mächte-Verhandlungen 1969-1974, München 1990.
[3] Nicht berücksichtigt wurde die schmale, aber nicht unwichtige Studie von Michael Wirth: Die deutsch-französischen Beziehungen während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt (1974-1982). "Bonne Entente" oder öffentlichkeitswirksame Zweckbeziehung?, Berlin 2007. Ebenso unbeachtet blieb die für zentrale Kapitel weiterführende Monographie von Ulrich Lappenküper: Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011.
Ulrich Lappenküper