Frank Trommler: Kulturmacht ohne Kompass. Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 732 S., 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-21119-6, EUR 49,90
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"An die Kulturwelt" richteten 93 deutsche Wissenschaftler und Künstler ihren berühmten Aufruf zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Sie wiesen die Vorwürfe des Auslands zurück, Deutschland trage Schuld am Krieg, habe die Neutralität Belgiens verletzt sowie das Völkerrecht gebrochen, und gaben so jegliche Distanz zum deutschen Militär auf. Damit widerlegten sie all jene, die von den "deux Allemagnes", vom Deutschland der Kultur und vom Deutschland der Pickelhaube, gesprochen hatten: Auch diese mussten "nun konzedieren, dass es nur noch das eine Deutschland gab, in dem Kultur und Militär untrennbar zueinandergehörten" (187). Der Aufruf der 93 erweist sich damit als ein zentrales Ereignis der deutschen auswärtigen Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, die Frank Trommler umfassend analysiert.
Noch um 1900 schrieb man Kultur kaum einen politischen Stellenwert zu. Kultur wurde nur im Sinne von "hoher Kultur" verstanden. "Kaiser Wilhelm II. steigerte das nationale Symbolkapital von Kunst und Kultur für die äußeren Belange des Reiches" (81), indem er auf die kulturelle Repräsentation Deutschlands im Ausland - zum Beispiel bei der Weltausstellung 1904 in St. Louis - Einfluss nahm. Er bevorzugte die Kunst einer älteren Künstlergeneration gegenüber moderner Kunst, schloss letztere von Ausstellungen aus und verschaffte ersterer "die Aura legitimer Reichskunst" (20). Die meisten hielten zwar bis zum Ersten Weltkrieg an einer unpolitischen Definition von Kultur fest. Deswegen traf es die deutsche Seite auch so unvorbereitet, dass mit Beginn des Krieges "Kultur so schnell und eindringlich ins Zentrum der Propaganda" rückte (191). Doch auch in Deutschland hisste man "den Stolz auf die eigene Kultur wie eine Fahne", so dass das Herabreißen dieser Fahne "einer militärischen Eroberung" gleichkam (189). Daher fühlten sich auch die Autoren des "Aufrufs an die Kulturwelt" persönlich angegriffen, als Henri Bergson am 8. August 1914 in einer Rede vor der Académie des sciences morales et politiques verkündete: "Der Kampf gegen Deutschland ist der Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei." (189)
Die Verbindung von Kultur und Politik ließ sich nun nicht mehr lösen. Die Weimarer Republik berief sich in ihrer Gründungsphase bewusst auf die deutsche Kultur, um ein Einheitsbewusstsein herzustellen und um sich von der Wilhelminischen Ära abzugrenzen. Über diese, so sagte Friedrich Ebert in seiner Eröffnungsansprache zur Verfassunggebenden Versammlung am 9. November 1918 unter Berufung auf Ferdinand Lassalle, seien "die klassischen deutschen Denker und Dichter nur im Kranichzug [...] hinweggeflogen. Jetzt muß der Geist von Weimar, der Geist der großen Philosophen und Dichter, wieder unser Leben erfüllen." (292)
Wie man weiß, war dies zu idealistisch gedacht. "Auf tragisch-ironische Weise entwickelte sich die Berufung auf Kultur [...] zu einem der Zerklüftungsfaktoren der Weimarer Republik" (295), in der zahlreiche Teilkulturen neben- und gegeneinander standen. Im Umfeld einer dieser Teilkulturen, nämlich jener der deutschen Minderheiten in anderen Staaten, bereitete sich zudem ein folgenschwerer Definitionswandel des ("national codierten") Begriffs der Kultur vor: "Vom Kampfinstrument nationaler und internationaler Eliten mutierte er selbst zu einem Substanzbegriff ethnischer Homogenität, verlor die 'feudale' Scheidung von hohem Repräsentationsstatus und niederer Alltagskultur zugunsten der Aussagekraft für die jeweilige Volksindividualität." (371) Auswärtige Kulturpolitik hieß in diesem Verständnis daher, "die verschiedenen Volksindividualitäten miteinander in Kontakt zu bringen." (371) Kulturelle Andersartigkeit wurde nun also essentialisiert und vor allem auch ethnisiert.
Dies erklärt überhaupt erst, warum ein rassistisches Regime wie das nationalsozialistische Kulturbeziehungen mit anderen Staaten einging. Auswärtige Kulturpolitik wurde nach 1933 in erster Linie zur Manifestation von Differenz eingesetzt - und dabei besonders zur Abwehr der "Massen"-Kultur Amerikas und der "Unkultur" des Bolschewismus (510). Dies geschah, wie Trommler einmal mehr belegt, vehement und massiv, womit man die Lehren aus der vermeintlichen Niederlage an der geistigen "Dritten Front" des Ersten Weltkriegs (so der Oberregierungsrat im Reichserziehungsministerium Herbert Scurla) gezogen zu haben glaubte. Treffend resümiert Trommler, dass das NS-Regime bei seinem "Übertritt in die Barbarei" die Kultur nicht zurückgelassen habe. "Sein Verrat an der Kultur war viel verwickelter, viel teuflischer: Es zog die Kultur in diese Zone mit hinüber." (557)
So betrachtet ist es nicht verwunderlich, dass in der jungen Bundesrepublik die Regierung "kaum Interesse daran [zeigte], Kultur zu einem Faktor in den Beziehungen zu anderen Staaten zu machen." (575) Trommler kritisiert die Zurückhaltung als Notlösung, die die "personellen, institutionellen und geistigen Kontinuitäten" in der auswärtigen Kulturpolitik nicht verdecken konnte: "Auf Schienen, die schon einmal schwere Transporte auch deutscher Kultur befördert hatten, konnte man andere Wagen mit leichterer Ausstattung einsetzen, kaum aber überzeugend neue Richtungen einschlagen." (578) Ähnliche Probleme kennzeichneten die auswärtigen Kulturpolitik der DDR. Ein Umdenken fand - in Westdeutschland - erst ab 1960 statt, als Kulturpolitik neu konzipiert, das heißt entnationalisiert beziehungsweise postnational gewendet wurde.
Trommlers bisher einmaliger Zugriff macht das Thema auswärtiger Kulturbeziehungen tatsächlich zum "Schlüssel für das Verständnis der modernen internationalen Geschichte" (9). Die Monographie Manfred Abeleins aus dem Jahr 1968 [1] ist so stark institutionsgeschichtlich ausgerichtet (und in den Wertungen vielfach überholt), dass sie kaum als Vorläufer von Trommlers monumentalem Überblick über ein Jahrhundert deutscher auswärtiger Kulturbeziehungen gelten kann. Zumal Trommler auch thematisiert, was alles noch zur "deutschen Kultur" gehört, durch den hegemonialen Diskurs aber fast verdrängt wurde: der jüdische Beitrag zur deutschen Kultur, der Beitrag der Emigranten, derjenige österreichischer Wissenschaftler und Künstler. Außerdem bezieht Trommler die Sicht der Länder, mit denen Deutschland Kulturbeziehungen pflegte, vielfach in seine Analyse ein.
Auf empirischer Ebene sollte man dagegen nicht viel Neues erwarten: Trommler stützt sich - verständlich bei einem so groß dimensionierten Projekt - fast ausschließlich auf die Forschungsliteratur. Doch es kann nicht genug gewürdigt werden, dass Trommler einen großen Strauß von Einzelstudien zu einem überzeugenden Narrativ bündelt und so Übersicht und Orientierung schafft. Die Breite seiner Studie und ihre Klarheit im Urteil sind beeindruckend. Die Komplexität natürlich auch, und es hilft nicht bei der Reduktion, dass Trommler den über 700 Seiten nur eine sehr knappe Einleitung voranstellt, auf ein Resümee (oder gar auf Zwischenresümees) verzichtet und wenig aussagekräftige Titel für seine Unterkapitel wählt. Nicht einmal ein vollständiges Literaturverzeichnis hatte in dem dicken Band noch Platz. Es ist zu hoffen, dass trotz dieser Hürden viele Leser die Lektüre auf sich nehmen. Es lohnt sich!
Anmerkung:
[1] Manfred Abelein: Die Kulturpolitik des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik Deutschland. Ihre verfassungsgeschichtliche Entwicklung und ihre verfassungsrechtlichen Probleme, Köln / Opladen 1968.
Johannes Dafinger