Thea D. Boldt: Die stille Integration. Identitätskonstruktionen von polnischen Migranten in Deutschland (= Biographie- und Lebensweltforschung; Bd. 11), Frankfurt/M.: Campus 2011, 223 S., ISBN 978-3-593-39496-1, EUR 34,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Ausgehend vom empirischen Phänomen, dass polnische Migrantinnen und Migranten in Deutschland wenig mediale Aufmerksamkeit erlangen und als beispielhaft integriert gelten, befasst sich Thea D. Boldt in ihrer Studie mit den Lebensgeschichten von Menschen unterschiedlicher Altersstufen, Herkunft und beruflicher Qualifikationen, die aus Polen kommend heute in Deutschland leben. Die biografietheoretische, qualitative Studie geht von einem prozesshaften Identitäts- und Ethnizitätsbegriff aus und grenzt sich von quantitativen, oft ökonomisch motivierten Studien über Migration ab. Ihre empirischen Beispiele und theoretischen Verallgemeinerungen geben ein differenziertes Bild von den komplexen Familien- und Lebensgeschichten, die hinter Migration und Integration stehen.
Die Monografie beruht auf dem Promotionsprojekt der Verfasserin, für das sie biografisch-narrative Interviews geführt und fallrekonstruktiv ausgewertet hat. Die methodische Herangehensweise ermöglicht eine Annäherung an die Alltagserfahrungen der Biografinnen und Biografen und eine Antwort auf die Frage nach den Identitätskonstruktionen polnischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland.
Nachdem sie in die Thematik eingeführt und die Relevanz der Fragestellung begründet hat, widmet sich Boldt knapp der Geschichte der Migration von Polen nach Deutschland anhand von Sekundärliteratur, die sich vor allem mit Arbeitsmigration beschäftigt. Die Problematik der Staatsangehörigkeit, Volkslistenzugehörigkeit und Spätaussiedleranerkennung wird ebenfalls beleuchtet. Einen stärkeren Fokus legt die Verfasserin auf die theoretische Rahmung und den Versuch, den diversifizierten Identitätsbegriff zu klären. Sie bezieht sich hier vor allem auf die Arbeiten von George Herbert Mead, Maurice Halbwachs und Aleida Assmann sowie auf empirische Studien zu Identität, Migration und Biografie. [1]
Kernstück des Buches ist die Rekonstruktion von drei empirischen Fällen polnischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Deren Auswahl erfolgte im Paradigma der grounded theory anhand sich maximal unterscheidender Fälle. Es wird sehr gut herausgearbeitet, in welcher Form die kollektive Geschichtsdeutung, verschiedene Erinnerungskulturen und familial tradierte Deutungsmuster in den biografischen Konstruktionen zusammenspielen. Historisch belesene Rezipientinnen und Rezipienten des Buches werden die Quellennachweise für historische "Fakten" teils vermissen. Da es sich aber um eine soziologische und nicht historische Studie handelt, stehen die sozialen Handlungs- und Deutungsweisen im Vordergrund. Vor allem die Genese bestimmter Handlungsmuster und ihre heutige biografische Präsentation im Kontext von Migration und Diskriminierungserfahrungen werden rekonstruiert. Die Verfasserin verwendet zahlreiche Textbelege aus den Interviews, was die Hypothesenbildung sehr gut nachvollziehbar und die Rekonstruktionen plastisch macht. Leider lassen sich an keiner Stelle die polnischen Originaltexte finden. Dabei wollte nur einer der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner das Interview auf Deutsch führen, alle anderen wählten die polnische Sprache. So lässt sich das Buch im deutschen Sprachraum zwar besser lesen, aber es entsteht auch der falsche Eindruck, dass es sich hier tatsächlich um völlig integrierte beziehungsweise assimilierte Migrantinnen und Migranten handelt, die perfekt Deutsch sprechen.
In der abschließenden Zusammenführung von Theorie und Empirie verallgemeinert die Verfasserin ihre empirischen Ergebnisse hin zu drei Idealtypen im Sinne Max Webers, die über den Einzelfall hinaus auf kollektive Erklärungsmuster verweisen. Der erste Fall repräsentiert den polnischen Traditions-Typus. Charakteristisch für diesen Typus ist vor allem der Bezug auf den kollektiven Kampf für die polnische Identität und die polnische Nation sowie das interpretierte Leiden unter deutscher und russischer beziehungsweise sowjetischer Besatzung. Das in der Familie erlebte Leid im Zweiten Weltkrieg wird in einen Deutungszusammenhang gesetzt mit den Diskriminierungserfahrungen, die als Migrantin und Migrant in Deutschland gemacht werden.
Vertreterinnen und Vertreter des zweiten, deutsch-polnischen Ambivalenz-Typus stammen oft aus deutsch-polnischen Familien, und ihre ethnische Zugehörigkeit wurde und wird je nach politischen Umständen betont, gedeutet beziehungsweise in der Retrospektive auch umgedeutet. Die Verlusterfahrungen im Zweiten Weltkrieg führten für die Vertreterinnen und Vertreter dieses Typus zu Brüchen und Entwurzelung. Mit der Migration nach Deutschland wird der Versuch unternommen, Kontinuitäten zu schaffen und als Spätaussiedler oder Vertriebene Anerkennung zu finden. Dies gelingt den Biografinnen und Biografen jedoch meist nicht. Daher weisen die Identitätskonstruktionen im Spannungsfeld administrativen "Deutsch-Seins" und erlebter Diskriminierungen aufgrund des "Polnisch-Seins" weitere Ambivalenzen auf.
Als dritter Typus wird der polnische Ethnisierungstypus rekonstruiert. Für diesen ist charakteristisch, dass das "Polnisch-Sein" erst nach der Migration nach Deutschland relevant wurde. Die Präsentation der Biografien erfolgt losgelöst von der Familien- und Kollektivgeschichte, das heißt die lange Tradition deutsch-polnischer Konflikte, wie beispielsweise beim Traditions-Typus, findet sich hier nicht. Stattdessen verändert sich die Selbstwahrnehmung im Wechselspiel mit den Fremdzuschreibungen und Diskriminierungserfahrungen. Auch wenn beispielsweise eine deutsche Staatsangehörigkeit gegeben ist, aber durch das soziale Umfeld immer wieder die Fremdzuschreibung als "der Andere und die Andere" erfolgt, bleibt für viele nur die Identitätskonstruktion als Polin und Pole. Vertreterinnen und Vertreter dieses Typus finden Zugehörigkeit nur bei anderen polnischen Migrantinnen und Migranten und zelebrieren das typische Polnische in Kulturvereinigungen oder polnischen Kirchengemeinden. Auch wenn die Verfasserin eine qualitative und keine auf Häufigkeiten basierende Studie vorlegt, so bemerkt sie doch, dass der dritte Typus in ihrem Sample am häufigsten auftritt.
Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag, um die Perspektive der polnischen Migrantinnen und Migranten selbst einzubringen und statt statistischer Erhebungen zu Migration alltagsweltliche Erfahrungen zu berücksichtigen. Die Verfasserin arbeitet sehr gut heraus, wie die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte und das schwierige Verhältnis trotz politischer Entspannung heute auf der biografischen Erlebens- und Erzählebene fortwirken. Die historische Einbettung hätte jedoch noch stärker herausgearbeitet werden können, um auch die Diskursebene mehr in den Fokus zu rücken. Als wichtigstes Fazit bleibt festzuhalten, "dass die Erfahrungen von Familienmitgliedern im Zweiten Weltkrieg bis heute einen wichtigen Referenzrahmen für die polnischen Identitätskonstruktionen in Deutschland bilden und die Verortung der Migranten in der deutschen Gesellschaft beeinflussen" (199).
Der Titel Die stille Integration wirkt meines Erachtens allerdings etwas irreführend. Zwar geht Boldt auf die Komplexität des Phänomens der Migration und auch auf die Schwierigkeiten des Lebens von Polinnen und Polen in Deutschland ein, aber der Terminus "Integration" wird weder näher reflektiert noch diskutiert, lediglich zu Beginn und am Ende erfolgt unter Einbezug von Sekundärliteratur auf wenigen Seiten eine Auseinandersetzung. Die Monografie bietet vielmehr wertvolle Erkenntnisse zur wechselhaften deutsch-polnischen Erfahrungs- und Erinnerungskultur auf der Ebene der Alltagshandelnden und zu ihren Auswirkungen auf heutige soziale Probleme und Fragestellungen.
Anmerkung:
[1] Vgl. z.B. die klassische Studie von William Isaac Thomas / Florian Znaniecki: The Polish Peasant in Europe and America, Chicago 1918.
Ina Alber-Armenat