Jan Eckel: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 936 S., ISBN 978-3-525-30069-5, EUR 59,99
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Menschenrechte sind in. Seit gut einem Jahrzehnt boomen nach juristischen und politikwissenschaftlichen auch historische Forschungen zum Thema. Diese Freiburger Habilitationsschrift übertrifft jedoch nicht nur quantitativ alle bisherigen Versuche. Der Begriff Menschenrechte ist insgesamt nicht einheitlich zu denken. Es kann nicht allein um die großen Kodifizierungen im UN-System oder in Europa gehen, auch nicht um die nominalistische Berufung darauf. Ebenso kommt es vor, dass entsprechende Diskurse geführt wurden, ohne dass der Begriff selbst verwandt wird. Eckel sucht hier einen Mittelweg zu finden, wenn er die Sprache der Menschenrechte in Verbindung mit einem idealistischen Wollen zur Leitlinie erklärt. Allerdings fragt sich da, ob kommunistische oder gar nationalsozialistische Verwendungen des Denkmusters Menschenrechte nicht gleichfalls historisierend in diesem Rahmen zur Thema gehören: eine gleichsam objektive Seite des "Guten" gibt es ja nicht.
Eckel setzt mit seiner Studie im Kern mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen ein. Ob die von anderen Autoren bevorzugten früheren Einsätze - Eckel selbst erwähnt die Abschaffung der Sklaverei - etwas ganz anderes darstellten, als die jüngere Entwicklung signalisiert, bedarf auch über die hier dargelegten Argumente hinaus weiterer Diskussionen, ist aber pragmatisch durchaus einleuchtend. Was aber liefert der Verfasser? Aus zehn, je unterschiedlich ansetzenden, Kapiteln ergibt sich eine globale Gesamtschau der Menschenrechtspolitiken zwischen den 1940er und 1980er Jahren, ein Ausblick führt in die Gegenwart. Dabei wechselt Eckel jeweils Makro- und Mikroperspektive, stützt sich in bewundernswerter Breite auf eigene Archivstudien etwa bei den UN, bei Amnesty International (AI), in Archiven der USA, Großbritanniens und Chiles. Etliche Weltregionen können nur aus der recht reichhaltigen Forschung rekonstruiert werden, aber auch hier leistet der Verfasser Außerordentliches.
Zunehmend erkennt Eckel eine Verstärkung des menschenrechtlichen Ansatzes als Gegenpol zur Gewaltgeschichte des Jahrhunderts. Aber er sieht keinen linearen Fortschritt, sondern bleibt immer bei den Ambivalenzen. Ihm geht es um Genese, sodann um Praxis und Wirkungen. Aber durchsetzen konnten sich solche Initiativen nur in bestimmten politisch-historischen Momenten und unter Beimischung anderer, zumeist nicht so idealistischer Interessen. Das richtet sich u.a. gegen das bisher maßgebliche Werk von Samuel Moyn [1] (mit dem Eckel selbst einen lesenswerten Band zur "Moralpolitik"[2] herausgegeben hat). Dessen "Last Utopia" der Menschenrechte war nicht nur stärker ideengeschichtlich angelegt, sondern erkannte in dem Thema nach Erledigung der kommunistischen oder auch nationalstaatlichen Utopien eine kontinuierlich wachsende Bedeutung, obwohl er sich von dem durchgehenden Erfolg nicht überzeugt zeigte.
Demgegenüber betont Eckel die polyzentrischen Ursprünge unterschiedlicher Initiativen, deren Diskontinuitäten und Ambivalenzen - in meiner Diktion: gut gemeint ist nicht unbedingt gleich gut. Das liegt an der sehr gründlichen und überlegten politischen Kontextualisierung, sei es innenpolitischer Ansätze, sei es internationaler Diskussionen und Beschlüsse. Gesinnung setzte sich nie alleine durch, sondern bedurfte der, erfuhr aber auch die Einbettung in ganz andere Zusammenhänge. Somit schreibt Eckel eine politische Geschichte der Menschenrechte, wie es sie so noch nicht gegeben hat.
Menschenrechte waren ein Teil des alliierten Planungsprozesses für die Nachkriegsordnung. Dennoch führte von ihnen kein direkter Weg zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und zu der europäischen Menschenrechtskonvention von 1950. Angesichts der tatsächlichen "negativen Weltinnenpolitik" (93) der Großmächte dienten Menschenrechte zunächst weitgehend dazu, den Gegner zu diskreditieren. "Die unmittelbaren Wirkungen waren gleich Null" (102). Zwangsarbeit im Sowjetsystem versus Vernachlässigung sozialer Rechte bildeten auch im Forum der UNO die Basis für zwar lange, aber auch leere Debatten. Gerade diese "Logik des verqueren Nullsummenspiels" (121) wurde Teil des Kalten Kriegs. Mit leichter Hand werden hier als insgesamt unzutreffend die gängigen politikwissenschaftlichen Erklärungen beiseitegeschoben (147). Eckel begnügt sich jedoch nicht mit solchen Verdikten, sondern breitet ein breites Panorama unterschiedlicher Ansätze zu Menschenrechten gerade aus den unabhängig werdenden Kolonien bzw. aus Südamerika aus.
Der rudimentären Wertegemeinschaft des Europarats und der noch viel schwächeren Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sind ebenso dichte Darlegungen gewidmet wie den ersten NGOs, die aber über die ausgebliebene Umgestaltung der internationalen Beziehungen enttäuscht waren. Die Dekolonisierungswelle um 1960 stützte sich kaum auf Menschenrechte ab, denn Selbstbestimmung als kollektives Menschenrecht wurde erst 1966 in den beiden UN-Menschenrechtspakten verankert.
Nach gut einem Drittel des Buches ist der noch wichtigere zweite Teil über die 1970er und 1980er Jahre erreicht. Seither kommen Regierungen kaum noch ohne einen Rekurs auf Menschenrechte aus. Bei Eckel wechseln sich fundamental erarbeitete Fallstudien mit verbindenden Überblicken ab. Da ist zunächst "Amnesty International und die Neuerfindung des westlichen Menschenrechtsaktivismus" (347) ganz aus den Akten gearbeitet. Das explosionsartige Anwachsen der Mitgliederzahlen von AI, geboren aus vielen Quellen wie deren ostentativer Neutralität, einem neuen Expertentum und öffentlichen Kampagnen, aber auch die Absage gegenüber Gesellschaftsutopien, wird nochmals vertieft am Beispiel der US-amerikanischen Sektion von AI. Im Rahmen dieser schon weitgehend populären Stimmung wurden Menschenrechte in den 1970er Jahren aus sehr unterschiedlichen Gründen zur Basis von Regierungspolitik: unter Joop den Uyl in den Niederlanden, Jimmy Carter in den USA und Außenminister David Owen in Großbritannien. Knappe Abrisse über Konservative wie Ronald Reagan und Helmut Kohl schließen sich an. Erhellend werden die je nationalen Motive und Politiksettings herausgestellt, die Berufung auf Menschenrechte im Rahmen ganz unterschiedlicher internationaler Aktionsbedingungen - und der anhaltende Misserfolg. "Die Umwertung von machtpolitscher Marginalität zu moralischer Superiorität" (446) für die Niederlande konnte nicht lange dominieren. Oder die Reagan-Administration: Sie griff Menschenrechte anfangs defensiv gegen innenpolitische Gegner auf, entwickelte daraus eine moralpolitische Dimension im Kalten Krieg, wurde darin aber "staatsmännisch moderat", später dann triumphalistisch. Für Eckel waren die hiermit einhergehende Verbreitung von Demokratie nach Lateinamerika und Asien und der Zusammenbruch des Ostblocks "nicht nur ein Sieg der Stärke, sondern auch ein Sieg des Guten." (je 567). Das zeigt exemplarisch die Differenzierungsfähigkeit des Autors.
Ein Kabinettstück ganz anderer Art stellt das Chile-Kapitel dar. Nicht nur, dass Eckel subtil die innen- und gesellschaftspolitische Konstellation des Landes von Allende zu Pinochet herausarbeitet, die weit mehr als eine nur brutale Militärdiktatur darstellte. Gerade die relative Offenheit mit der aus Chile u.a. von AI berichtet werden konnte, trug wesentlich zum Erfolg der Kampagnen bei und erwischte das Regime gleichsam kalt - auch dies ein Zeichen für die neue Bedeutsamkeit von Menschenrechten. Diese waren für die nationale Protestbewegung ebenso wichtig wie der Druck von außen - aber die konservative Transition ging nicht in genau diese Richtung. Die letztgenannten drei Kapitel - AI, westliche Politiker und Chile - sind so gründlich aus den Akten gearbeitet, enthalten so viele erhellende Beobachtungen, dass sie allein schon eine originelle Monographie abgeben könnten.
Immer wieder: Es geht um Wirkungen, Nebenwirkungen und unbeabsichtigte Weichen, die gegenüber Unilinearität herausgearbeitet werden. Oder anders gewandt: Gegenüber einer Erfolgsgeschichte von Ideen und öffentlichem Engagement vermag Eckel neben den Erfolgen auch die Abbrüche, Teilsiege und Umdeutungen zu zeigen. Das gilt auch für das letzte Kapitel über die Menschenrechtsdebatte in Osteuropa, zu der es schon eine Fülle an Veröffentlichungen gibt. Auch hier sind aber die begrifflichen Schneisen, die Eckel bei dauerndem Perspektivwandel zieht, anregend und neu.
Kritik ist nur wenig zu üben: Einiges hätte auch knapper sein dürfen; die Archivfunde verleiten zur Ausführlichkeit. Gelegentlich wird bei Darlegung der Diskurse, Politikformulierungen oder Narrative auf allen Seiten zu sehr verallgemeinert, zumal bei der "Großen Politik". An anderer Stelle sollte weiter nach interessenpolitischen Manipulationen aus dem Hintergrund geforscht werden. So wird z. B. die Assembly of Captive European Nations erwähnt (248), für die Menschenrechte eher Staffage gewesen seien. Dazu hat gerade jüngst eine Studie gezeigt, wie sehr hinter diesem Zusammenschluss von Exilorganisationen die CIA stand. [3]
Doch das ist marginal. Insgesamt liegt eine inhaltlich Neuland erschließende, im Zusammendenken bahnbrechende und methodisch höchst anregende Studie vor, die zu den wichtigsten historischen Neuerscheinungen des Jahres 2014 gehört.
Anmerkungen:
[1] Samuel Moyn: The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2010. http://www.sehepunkte.de/2012/05/21075.html
[2] Jan Eckel / Samuel Moyn (Hgg.): Moral für die Welt?. Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen 2012. http://www.sehepunkte.de/2013/03/22477.html
[3] Vgl. Katalin Kádár Lynn (ed.): The Inauguration of "Organized Political Warfare". Cold War Organizations sponsored by the National Committee for a Free Europe / Free Europe Committee, St. Helena, CA 2013.
Jost Dülffer