Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2014, 431 S., ISBN 978-3-518-42461-2, EUR 26,95
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25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs legt mit Philipp Ther einer der profiliertesten Ostmitteleuropa-Historiker eine Studie über die neoliberale Transformation Europas vor. Er schreibt eine Geschichte, die von Mitte der 1980er Jahre bis 2014 reicht und ganz aktuelle Ereignisse wie die jüngste Ukrainekrise mit einbezieht. Der Fokus richtet sich vor allem auf soziale und wirtschaftliche Folgen des Übergangs vom Staatssozialismus zur Demokratie unter den Vorzeichen einer marktliberalen Ökonomie; Neoliberalismus wird dabei reflektiert als einerseits diffamierender Kampfbegriff und andererseits als flexibles, keineswegs festgelegtes Konzept mit Kernelementen wie freiem Markt, Wettbewerb und schlankem Staat. Freilich geht es nicht um ganz Europa, sondern vor allem um die neuen Staaten westlich der russischen Grenze. Überzeugend ist, hierzu Deutschland zu zählen, sowie bei der Untersuchung der Hauptstädte zusätzlich Wien mit einzubeziehen, denn auch dort gab es starke Veränderungen. Andere Gebiete des "alten Kontinents" kommen lediglich in einem Kapitel vor, in dem nach dem Süden als neuem Osten gefragt wird.
Weil der Blick vor allem wirtschaftlichen Fragestellungen gilt, konstatiert Ther einen Beginn der Transformation schon vor 1989: Im Unterschied zu anderen Übergängen etwa 1789, 1848 oder 1917 kam es nicht zu einer gewaltsamen Revolution, sondern zu einer mal langsameren, mal sich beschleunigenden Veränderung von Lebensumständen und Staatsformen. Die Ursachen des Systemwechsels 1989 werden in einer tour de force knapp betrachtet und dabei die geläufigsten Interpretationsmuster wie etwa staatliche Politik, Oppositionshandeln, Massenproteste oder wirtschaftlicher Niedergang kritisch hinterfragt. Das Resultat ist vor allem ein Plädoyer für längerfristige, multiperspektivische Herangehensweisen: Niedergang und Revolution sind nicht deckungsgleich, selbst wenn sie eng miteinander verknüpft waren.
Schon die ersten Kapitel zeigen mit den un- und antipolitischen Diskursen ein wesentliches Merkmal der neoliberalen Transformation, deren Maßnahmen fast immer als "alternativlos" qualifiziert wurden. Thers Analyse ist an dieser Stelle genauso überzeugend und prägnant wie im ganzen Buch. Er zeigt stets mehrere Deutungsangebote, vermeidet wertende Stellungnahmen, und steht dennoch seinem Gegenstand kritisch gegenüber. So bestätigt die Studie gerade in ihrer Objektivität zahlreiche Vorbehalte gegen den Neoliberalismus, dessen Vorteile vor allem für Leistungsträger und Besitzende gelten, während beispielsweise ärmere, ältere oder weniger qualifizierte Menschen meist zu den Verlierern gehören, weil Rücksicht, Solidarität und Sozialstaatlichkeit nicht mehr erwünscht sind.
Die enorme Faktendichte, die jedoch vor allem aus statistischen Daten besteht, zeigt gerade im Vergleich, wie einschneidend die ökonomischen Veränderungen nach 1989 waren. In Polen beispielsweise folgte der von Leszek Balcerowicz verabreichten "Schocktherapie" sowohl prozentual als auch absolut ein viel drastischerer Niedergang als in der Bankenkrise 2009. Die Wirtschaft brach um 24 Prozent ein, und sowohl Dauer wie Tiefe dieses Einbruchs ließen sich nicht steuern. Dabei zeigt sich exemplarisch das Paradoxon, dass die Ideologie des Neoliberalismus zwar wenig Staat propagiert, zu ihrer Umsetzung aber gerade eines starken Staats bedarf - der dann wiederum nach den Reformen nur noch zusehen kann, wie sich die Lage entwickelt. Demokratie und Marktwirtschaft sind dabei, anders als manche Ökonomen meinen, keinesfalls untrennbar verbunden; ganz im Gegenteil war der radikale Umbau vielfach nur möglich gegen die Mehrheit der Gesellschaft, deren Unmut sich Mitte der 1990er Jahre in drastischen Wahlniederlagen für die Reformer und Siegen für postkommunistische Parteien äußerte.
Bei vielen Einzelbefunden wird sich einwenden lassen, dass sie einem aufmerksamen Beobachter des Zeitgeschehens schon bekannt sind. Doch die Zusammenhänge, der Überblick, und insbesondere die ebenso breite wie überzeugende Analyse sind unübertroffen. Ther hat ein Standardwerk verfasst, das jeder am Zeitgeschehen Interessierte lesen sollte. Das gilt umso mehr, als er komplexe Sachverhalte so anschaulich und lesbar darlegt, dass sie tatsächlich allgemeinverständlich werden. Die Ausrede, sich nicht für Wirtschaft zu interessieren, kann angesichts dessen keine Geltung mehr haben. Das Buch zeigt, wieso die globalisierte Ökonomie heute mehr denn je Relevanz hat und aufmerksamer Beobachter bedarf.
Aber - und tatsächlich gibt es trotz der herausragenden Qualität der Untersuchung ein Aber - am Ende bleibt doch eine wichtige Frage offen: Ist dies noch eine historische Studie? Ther ist natürlich ein Historiker, der eine breite Kontextualisierung vor dem Hintergrund der osteuropäischen Geschichte ermöglicht und etwa bei seinen Anmerkungen zur Diskursrhetorik des Neoliberalismus auch von theoretischen Konzepten profitiert, die ein Publizist oder ein Politologe vermutlich nicht anwenden würde. Allerdings beruht sein Buch neben umfassender Sekundärliteratur fast ausschließlich auf veröffentlichten Materialien sowie statistischen Daten und wirtschaftswissenschaftlichen Analysen.
Dadurch entsteht ein Problem der Repräsentativität bzw. Aussagekraft, weil Zahlen Lebenswirklichkeit nur beschränkt wiedergeben. Ther hilft sich hier mit der Schilderung von persönlichen Eindrücken, was - wie zuletzt auch bei Edgar Wolfrum [1] - eine recht affirmative Einstellung zur eigenen Zeitzeugenschaft bedeutet. Aus seinen Beobachtungen in den letzten zehn Jahren könnte der Rezensent problemlos - ebenso subjektive - Gegenbeispiele ins Feld führen, deren Aussage eventuell gleich illustrativ, vor allem aber gleich begrenzt wäre. Angesichts des Mangels aussagekräftigerer Dokumente, denen Ther mit Quellenkritik begegnen könnte, ist zudem oft keine personalisierte Zuordnung des Geschehens möglich (das Wort "man" ist Legion), über Absichten und Intentionen etwa der handelnden Politiker und Ökonomen kann er meist nur spekulieren.
Ther selbst thematisiert außerdem vorschnelle Bilanzen etwa zur Transformation oder zur Schocktherapie, die zu früh Erfolg oder Scheitern verkündet hätten. Doch das gilt für sein Buch gleichermaßen: Wenn er die Wahlsiege der Kaczyński-Brüder in Polen als vorübergehende Erscheinung bezeichnet, aus denen Polens Demokratie gestärkt hervorgegangen sei, so deuten aktuelle Umfragen auf ein wahrscheinliches Comeback hin (was Ther selbst erwähnt, 170); die momentane Ukraine-Krise, die kurz angerissen wird, ist in keiner Hinsicht abgeschlossen, wird aber bereits behandelt. Ist das noch - schon - Historisierung? Die Zeithistoriker werden sich diesen und ähnlichen Problemen stellen müssen, wenn sie gegenüber Soziologen oder Politologen nicht ins Hintertreffen geraten wollen [2] und einen Anspruch auf die Deutungshoheit auch der jüngsten Vergangenheit erheben. Die damit verbundenen methodischen Fragen stellt dieses Buch kaum. Aber gerade weil es eine so lesenswerte Analyse der letzten 25 Jahre bietet, fordert es dazu auf, sich damit zu beschäftigen.
Anmerkungen:
[1] Edgar Wolfrum: Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998-2005, München 2013.
[2] Hierzu und zur damit verbundenen historisch-methodischen Herausforderung: Rüdiger Graf / Kim Priemel: Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ 59 (2011), 479-508.
Stephan Lehnstaedt