Gerhard Lubich (Hg.): Heinrich V. in seiner Zeit. Herrschen in einem europäischen Reich des Hochmittelalters (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii; 34), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 352 S., ISBN 978-3-412-21010-6, EUR 44,90
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Als der letzte Salier, Kaiser Heinrich V., am 23. Mai 1125 starb, widmete ihm Ekkehard von Aura in seiner Weltchronik folgenden Nachruf: "Dieser nahm, [...] zunächst unter dem Anschein der Frömmigkeit dem exkommunizierten Vater [sc. Heinrich IV.] das Reich. Im festen Besitz der Würden änderte er sein Verhalten; nachdem er dem Apostolischen Stuhl zahlreiches Unrecht zugefügt hatte, blieb er stets hinter sich selbst zurück und bemühte sich nicht mehr um die Gerechtigkeit im Reich. Er war von scharfem Verstand, tapfer und kühn, jedoch wenig glücklich im Kampf, versessen auf fremdes Gut". [1] Wenn Ekkehard von Aura davon spricht, dass Heinrich V. stets hinter sich selbst zurückblieb, spielt er nicht nur auf dessen persönliche Unfähigkeit an, sondern seine Kritik zielt auf Grundsätzliches: Der letzte Salier verlor nicht nur die Auseinandersetzung mit der Kirche; das römisch-deutsche Königtum büßte unter Heinrich V. seine integrative Kraft und der König seine das Reich repräsentierende und beherrschende Präzedenz ein. Hat Heinrich demnach die Zeichen der Zeit nicht erkannt und die sich vollziehenden Veränderungen in Politik, Verfassung und Gesellschaft geradezu sträflich ignoriert?
An diesem Punkt setzt der vorliegende Tagungsband an, dessen Beiträge die von der neueren Forschung lange vernachlässigte Regierung Heinrichs V. "[...] nicht so sehr aus der Person denn aus den Zeitumständen heraus verständlich zu machen" suchen (Lubich, 8). Wer neue Erkenntnisse über die Beilegung des Investiturstreits und die Auswirkungen der Kirchenreform im Reich oder tiefere Einsichten in den Prozess der sozialen und politischen Formierung der Fürsten, Ministerialität und Bürger erwartet, wird jedoch enttäuscht werden. Der Band legt sein Hauptaugenmerk vielmehr darauf, "mit Heinrich V. verbundene Ereignisse, Strukturen und Zusammenhänge in der Perspektive der neueren Forschung zu kontextualisieren" (8).
Die insgesamt 17 Beiträge lassen sich drei Themenfeldern zuordnen. Nachdem zunächst Voraussetzungen, Kontinuitäten und Neuansätze der Herrschaft Heinrichs V. exemplarisch untersucht werden, richtet sich der Blick sodann auf Heinrichs Verhältnis zum Papsttum und zu Italien. Da der Band konzeptionell "dem Prinzip europäischer Vergleichbarkeiten" (8) verpflichtet ist, behandelt der dritte Schwerpunkt die Nachbarn des deutschen Reiches im Westen und Osten, vor allem Frankreich, Ungarn, Bulgarien und die Kiever Rus, und vergleicht die Vorgänge im christlichen Europa des 11./12. Jahrhunderts mit den Machtverschiebungen in der islamischen Welt.
Den Reigen der Beiträge eröffnet Hanna Vollrath (11-41), die die Stellung der salischen Könige in ihrem Reich aus einem kommunikationstheoretischen Blickwinkel ergründet. Sie fragt nach den Möglichkeiten und Handlungsspielräumen der salischen Könige, sich Informationen über die jeweilige Situation vor Ort in ihrem Reich zu beschaffen. Die Kleinräumigkeit der Lebensverhältnisse im 11. Jahrhundert setzte dem direkten königlichen Zugriff jedoch enge Grenzen, welche die Salier angesichts des Fehlens verlässlicher und flächendeckender Kommunikationswege vielfach nicht zu überwinden vermochten. Zur Erfassung der räumlichen Aspekte der ambulanten Regierungspraxis Heinrichs V. wählt Caspar Ehlers (81-102) zwei komplementäre Zugänge, das herrscherliche Itinerar und die Auswertung der Herrscherdiplome, die seit Juni 2010 in einer unkommentierten Vorab-Edition im Internet zugänglich sind. [2]
Kein Vorgang hat Ansehen und Bild Heinrichs V. bei Zeitgenossen und Nachwelt so nachhaltig geprägt wie der Konflikt mit seinem Vater und die prekären Umstände von dessen Absetzung. Nach Daniel Brauch (69-80) kündigte sich der Bruch zwischen Vater und Sohn schon lange vor der Rebellion von 1104 an; Heinrich IV. hinderte seinen Sohn daran, ein eigenes Profil als König zu entwickeln, und minderte ihn dadurch in seinem Rang. Steffen Patzold (43-68) kontrastiert die von Vater und Sohn in ihrem Streit benutzten Argumentationsmuster und verdeutlicht die Kommunikationsprozesse, in denen beide Seiten ihre Argumente medial im Reich zu verbreiten und die Legitimität ihres Handelns zu verteidigen suchten.
Gabriel Zeilinger (103-118) bestätigt die Befunde der magistralen Studie von G. Bönnen, dass die letzten beiden Salier den urbanen Zentren eine wachsende politische Bedeutung in ihrer Herrschaftspraxis im Reich beimaßen. [3]
Ohne erkennbaren Bezug zu Heinrich V. deutet Jens Lieven (119-136) ausgewählte reformerische Stifts- und Klostergründungen des rheinischen Adels im frühen 12. Jahrhundert als "Mittel der sozialen Selbstbehauptung" (136). Matthias Becher (137-150) wertet die (eher vagen) familiären Beziehungen Karl des Guten von Flandern zu den Grafen von Werl als Indiz, dass Karl in die Kämpfe der ausgehenden Salierzeit involviert war.
Die spannungsreichen Beziehungen Heinrichs V. zum Papsttum und zu Italien betrachten insgesamt vier Beiträge aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Wolf Zöller (151-168) vergleicht die Exkommunikationen Heinrichs V., um "Interdependenzen in der Urteilsfindung und etwaige Konfliktlinien in der letzten Phase des Investiturstreites" (151) aufzuzeigen. Anhand dreier Parameter, der jeweiligen Aufenthalte, der Urkundenausstellung und der Gestaltung der Siegel, reflektiert Jochen Johrendt (169-190) die zwischen 1080 und 1125 wiederholt wechselnde Bedeutung der Ewigen Stadt für beide Universalgewalten und legt dar, was Papst und Kaiser für die faktische Beherrschung Roms zu investieren bereit waren. Die Römer selbst ließen nichts unversucht, beide Gewalten in einer Art Schaukelpolitik gegeneinander auszuspielen. Florian Hartmann (191-213) betont die dezidiert kaiserkritische Haltung, die die Bologneser Rhetoriklehrer in ihren Werken der "ars dictaminis" einnahmen. In ihren Musterbriefen brandmarkten sie Heinrich V. als Urheber der Notlage Italiens und inszenierten ihn als vermeintlich unerbittlichen Tyrannen. Auf vier Romzügen suchte Heinrich V., seine Herrschaftsgewalt in Italien durch Ausstellung zahlreicher Urkunden (37 Prozent für italienische Empfänger), die Schöpfung eines neuen Siegels und einer neuen Titulatur ("Henricus dei gratia quintus Romanorum rex") zur Geltung zu bringen, wie Elke Goez (215-232) zeigt. Doch mit mäßigem Erfolg, da sich weite Teile Italiens des Kontaktes mit Heinrich nahezu völlig entzogen.
Die Beiträge des letzten Themenfeldes führen dem Leser die zeitgleichen Entwicklungen in Nachbarreichen im Westen und Osten vor Augen. Ihren Anspruch, Ansätze zu einem interkulturellen Vergleich zu bieten, lösen Thomas Kohl (253-269) über die Konflikte im Westen Frankreichs, Daniel Ziemann (271-287) über die zeitgleichen Versuche in Ungarn und bei den Kiever Rus zur Etablierung einer heiligen Herrscherdynastie sowie Wolfram Drews (253-269) über die Machtverschiebungen im islamischen Bereich (bei den Zengiden, Ayyubiden und Almohaden) jedoch nur partiell ein, da sie kaum Bezüge zum Reich Heinrichs V. herstellen.
Rolf Große (233-251) und Gerhard Lubich (301-337) beleuchten das ambivalente Verhältnis des Salierreichs zu Frankreich, das 1124 in dem schon vor Metz gescheiterten Feldzug Heinrichs V. gegen Ludwig VI. und dessen Ächtung als "regni aut ecclesie turbator" in der französischen Chronistik gipfelte. [4] Während Große die durch den Konflikt Ludwigs VI. mit dem Reich gestärkte politische und ideelle Einheit eines von König und Adel gemeinsam getragenen "regnum Francorum" betont, deutet Lubich das Unternehmen von 1124 metaphorisch als Abgesang auf eine Epoche, in der das deutsche König- und Kaisertum in regionaler Begrenztheit erstarrte und Heinrich V. seine das Reich verkörpernde integrative Funktion verlor.
Der grundlegende Band stellt eine weitere wichtige Etappe auf dem Weg zu einem angemesseneren Verständnis der Herrschaft des letzten Saliers dar. [5] Das neu erwachte Interesse der Forschung an Heinrich V. und seiner Zeit wird durch die hoffentlich baldige Veröffentlichung der MGH-Edition seiner Diplome intensiviert werden.
Anmerkungen:
[1] Ekkehard von Aura: Chronik Recensio IV, in: Frutolfs und Ekkehards Chroniken und die Anonyme Kaiserchronik, hg. und übersetzt von Franz-Josef Schmale / Irene Schmale-Ott (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe; Bd. 15), Darmstadt 1972, 334-376, hier ad a. 1125, 375.
[2] Online unter http://www.mgh.de/ddhv/index.htm (Stand 17.1.2015).
[3] Gerold Bönnen: Aspekte gesellschaftlichen und stadtherrschaftlichen Wandels in salierzeitlichen Städten, in: Die Salier, das Reich und der Niederrhein, hg. von Tilman Struve, Köln / Weimar / Wien 2008, 207-281.
[4] Suger: Vie de Louis VI le Gros, hg. von Henri Waquet (= Les classiques de l'histoire de France au Moyen Âge; Bd. 11), Paris 1929, c. 28, 230; dazu Bernd Schneidmüller: Regni aut ecclesie turbator. Kaiser Heinrich V. in der zeitgenössischen französischen Geschichtsschreibung, in: Auslandsbeziehungen unter den salischen Kaisern. Geistige Auseinandersetzung und Politik, hg. von Franz Staab, Speyer 1994, 195-220.
[5] Wichtige Impulse für eine Neubewertung der Regierung Heinrichs V. gab der 1992 erschienene Aufsatz von Stefan Weinfurter: Reformidee und Königtum im spätsalischen Reich. Überlegungen zu einer Neubewertung Kaiser Heinrichs V., Reformidee und Reformpolitik im spätsalisch-frühstaufischen Reich. Vorträge der Tagung der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte vom 11. bis 13. September 1991 in Trier, hg. von dems. (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte; Bd. 68), Mainz 1992, 1-45; wiederabgedruckt in: Stefan Weinfurter: Gelebte Ordnung - Gedachte Ordnung. Ausgewählte Beiträge zu König, Kirche und Reich. Aus Anlaß des 60. Geburtstages, hgg. von Helmuth Kluger / Hubertus Seibert / Werner Bomm, Ostfildern 2005, 289-333.
Hubertus Seibert