Christian Schlöder: Bonn im 18. Jahrhundert. Die Bevölkerung einer geistlichen Residenzstadt (= Stadt und Gesellschaft; Bd. 5), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, X + 339 S., 25 Abb., 2 Karten, ISBN 978-3-412-22246-8, EUR 44,90
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Höfe und Residenzstädte geistlicher Fürsten standen bis vor kurzem nicht im Fokus interdisziplinärer Forschungsvorhaben. Das Thema erlebte aber jüngst - nicht zuletzt mit Blick auf eine nun über 200 Jahre zurückliegende große Säkularisationswelle um die Jahre 1802/03 - eine Renaissance mit einer Reihe monografischer Neuerscheinungen, aktuellen Beiträgen in Festschriften und einer breiteren Themenakzeptanz, sowohl in der Historischen Zeitschrift als auch in zahlreichen regionalen wie überregionalen Periodika.
Die lang anhaltende Themenabsenz hat, wie auch die Überlieferung des von Edith Ennen hervorragend erschlossenen Bonner Stadtarchivs zeigt, weniger mit Quellenproblemen zu tun. Im Einzelfall können sie sicher auch entscheidend sein, doch lag das Problem im historisch-gesellschaftlichem Diskurs der Moderne. Ihr Mainstream folgte nach dem Kirchensturm unter Napoleon, dem Ende reichskirchlicher Netzwerke und Strukturen sowie einer sich anschließenden, primär von nationalstaatlichen Zielsetzungen diktierten Geschichtsschreibung anderen Themen. Die Vernachlässigung, bisweilen sogar die Negierung von Fragen nach der Bedeutung, den spezifischen Ausprägungen und Unterschieden geistlicher Stadtherrschaft und Staatlichkeit, fürstlicher Sakralität und reichskirchlich-höfischer Zentralität steht jedoch in krassem Gegensatz zur kulturellen und politischen Stellung geistlicher Fürsten in Mittelalter und Früher Neuzeit.
In diesen größeren Zusammenhang ist auch die hier anzuzeigende Neuerscheinung einzuordnen, die unter der Betreuung von Maximilian Lanzinner 2012 von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn als Dissertation angenommen wurde. Sie geht von einem weltweit beachteten baulichen Erbe aus dieser Zeit in und um die damalige Haupt- und Residenzstadt Bonn im geistlichen Kurfürstentum Köln (Schloss Augustusburg, Falkenlust bei Brühl, Residenzschloss Bonn) aus, um die Synthese von Residenz und Stadt zu suchen. Neuland betritt der Autor bei seinem sehr zeitaufwändigen Vorhaben, die Methodenvielfalt der Historischen Demografie für die Beschreibung Bonns im "langen" 18. Jahrhundert nutzbar zu machen. Die Rekonstruktion einzelner Familien aus den Kirchenbüchern - sie ist weitaus komplexer als die rein numerisch-aggregative Methode - bleibt ein unverzichtbarer Schlüssel für die generative Analyse zu jeder städtischen Gesellschaft. Christian Schlöder geht es dabei primär aber um den Einfluss des ansässigen kurkölnischen Hofes und seiner Landesregierung im Stadtbild und im generativen Verhalten der Bonner Stadtbevölkerung.
Im einleitenden Kapitel ("Einleitung", 1-17) wird zunächst der Forschungsstand zur Stadtgeschichte rekapituliert. Bonn ist dabei wahrlich kein unbeschriebenes Blatt - das zeigt bereits ein Blick in das ausführliche Literaturverzeichnis (310-331) -, wobei auch sozioökonomische Entwicklungen gegen Ende der Frühen Neuzeit bisher schon eine große Rolle spielten. Titel aus der Feder von Edith Ennen, wie beispielsweise "Die kurkölnische Haupt- und Residenzstadt in einem Jahrhundert der friedlichen und glanzvollen Entwicklung" oder die "Grundzüge der Entwicklung einer rheinischen Residenzstadt im 17. und 18. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel Bonns", weisen in diese Richtung.
Das zweite Kapitel (18-51) widmet sich den Rahmenbedingungen, unter denen die Stadtbevölkerung lebte. Hier geht es vorrangig um das Bevölkerungswachstum, konkret um die Zu- und Abnahme der Bürgerschaft im Spiegel höfischer und residenzbezogener Impulse. Nicht zu kurz kommen ferner der Siedlungsverlauf, der Häuser- und Straßenbau, sowie die wirtschaftlichen, klimatischen und geografischen Raster zur Stadtentwicklung.
Das dritte Kapitel (52-75) stellt die Sozialstruktur Bonns vor, wobei zwei sozial-topografische Tiefenbohrungen zu den Fourageleistungen der Bürgerschaft in den Jahren 1758 und 1795 für Transparenz sorgen.
Im vierten Kapitel ("Hof und Stadt", 76-120) kommt die Darstellung der engeren Thesenbildung am nächsten. Dort werden beispielsweise Fragen geklärt, ob die Größe und Zusammensetzung des geistlichen Hofstabes im engeren Kreis (curia minor) mit der Stadtbevölkerung im weiteren Kreis (curia maior) korrelierte. Wie stand die Bürgerschaft zu den kurfürstlichen Hof- und Militärchargen? Welche Eingriffe policeylicher Art seitens der Kurfürsten in die Stadtverwaltung wurden registriert und wie wirkten sich diese auf die städtische Autonomie aus? In welchem Maß war der Hof in der Stadt integriert und wie städtisch richtete sich das Hofleben aus?
Das umfangreiche Kapitel zur Bevölkerungsentwicklung ("Die Bevölkerungsbewegung", 121-219) analysiert zunächst nach den Prinzipien der Historischen Demografie die Geburten, Hochzeiten und Sterbefälle in Bonn. Im allerdings ziemlich disparat angelegten Städte- und Residenzvergleich wird das Profil einer geistlichen Stadt mit Blick auf Natalität, Nuptialität und Mortalität näher umschrieben. Bürgeraufnahmen, der Berufs- und Erwerbsstand der Zuwanderer, das Heiratsalter als "Stellschraube" für die Bevölkerungsentwicklung, Migration und Sterblichkeitsraten spielen eine große Rolle. Sie sind die generativen Parameter, um die Synergieeffekte zwischen Hof und Stadt zu verdeutlichen.
Angesichts einer Überlieferungslücke für die Einwohnerzählungen beschränkt der Autor seine Momentaufnahmen zur Bonner Bevölkerungsentwicklung im sechsten Kapitel (220-239) auf die Jahre 1720, 1790 und 1800, sodass die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts notgedrungen unterrepräsentiert erscheinen muss. Das siebte und letzte der Hauptkapitel ("Demographische Krisen", 240-270) widmet sich dem städtisch-höfischen Krisenmanagement in Notzeiten. Missernten, schwankende Kornpreise, Teuerungsjahre, Seuchen- und Krankheitsfälle beeinträchtigten das Bonner Alltagsleben auch unter den glanzvollen Regierungsjahren wittelsbachischer Vorzeigefürsten wie des Kurfürsten Joseph Clemens (1688-1723) und seines Neffen Clemens August (1723-1761).
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass mit Christian Schlöder erstmals für eine größere geistliche Residenzstadt die generative Bevölkerungsstruktur in enger Vernetzung mit dem zugehörigen Hof und der methodischen Zuverlässigkeit Historischer Demografie für die Residenzenforschung fruchtbar gemacht wurde. Weniger überraschend waren die Resultate des Vergleichs dahingehend, dass für geistliche Residenzstädte keine gemeinsame generative Struktur festzustellen war. Die Hof- und Landesbehörden fungierten als Taktgeber für die jeweilige Bevölkerungsentwicklung, die sich in der Germania Sacra eben regional und nicht staatentyplogisch vollzog.
Wolfgang Wüst