Thorsten Burkard / Markus Hundt / Steffen Martus u.a. (Hgg.): Natur - Religion - Medien. Transformationen frühneuzeitlichen Wissens (= Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit; Bd. 2), Berlin: Akademie Verlag 2013, 381 S., ISBN 978-3-05-005830-6, EUR 99,80
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Der Band versammelt das Ergebnis einer Tagung des Forschungszentrums "Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit", die im November 2009 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel stattgefunden hat. Man hatte sich einen weiten Fragekreis vorgelegt: "Was wird überhaupt zum Gegenstand von Wissen? Wie wird etwas zum Gegenstand von Wissen? Wie werden Relevanzen markiert? Welche Strategien der Plausibilisierung werden dabei eingesetzt? Welche Anschlussmöglichkeiten ergeben sich, und wo liegen die Sollbruchstellen etwa in historisch und regional spezifischen Diskursformationen? Wie sehen die Transformationen, Applikationen, Funktionalisierungen und Umfunktionalisierungen von Wissen und Wissensordnungen aus? Und wie gelingt es gegebenenfalls, bestimmte Rollenmuster von Akteuren des Wissens, bestimmte soziale Positionen, bestimmte Aufmerksamkeitsformen oder Ausbildungswege zu institutionalisieren?" (7f.)
Etwas außer Konkurrenz startet der Band mit Michael Titzmanns "theoretisch-methodologischen Bemerkungen" zum Wissen. Er wolle "einige Unterscheidungen und terminologische Festlegungen zum Gegenstandsbereich 'Wissen' vor[schlagen], von denen [er] hoffe, dass sie konsensfähig sein sollten" (17). Ein mutiges Unterfangen angesichts von 2500 Jahren Philosophiegeschichte bis hin zur Cognitive Science jetzt, von den Kulturwissenschaften noch gar nicht zu reden. Seine Lösung ist: "Die kleinste Einheit von Wissen soll Wissenselement heißen. Ein Wissenselement besteht in einer Proposition, die etwas behauptet oder bestreitet." (18) "Die Gesamtmenge des allgemeinen Wissens und der gruppenspezifischen Wissensmengen eines Raumzeitsegments soll kulturelles Wissen heißen." (21) Der erste Abschnitt des Bandes erörtert die "Diskursivierung naturwissenschaftlichen Wissens", d.h. Naturhistorie und Naturphilosophie zwischen 1500 und 1600, anhand der textlichen und paratextlichen Disposition pflanzenkundlichen Wissens bei Leonhard Thurneysser zum Thurn (Tobias Bulang), der "neuen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende[n]" (63) wie poetischen Darstellungsform alchemistischen Wissens bei Michael Maier, Andreas Libavius und Ostwald Croll (Volkhards Wels) sowie anhand des paracellistischen Elias artista, der im Buch der Natur zu lesen vermag (Michael Lorber). Der zweite Abschnitt des Bandes erörtert die "Diskursivierung theologischen und moralphilosophischen Wissens" mit den Imaginationen des Hexensabbats durch Martin del Rio, Pierre de Lancres und Johannes Praetorius (Barbara Becker-Cantarino), den Raumvorstellungen Moralischer Wochenschriften (Misia Sophia Doms) und der Vorstellung Michael Titzmanns "Antichristliche[r] und antireligöse[r] Diskurse in Früher Neuzeit und Aufklärung". Schade, dass Titzmann für seinen weiten Entwurf weder die nun schon ältere Kontextualisierung des Problems "Religion und Aufklärung" durch die deutsche Aufklärungsforschung, so durch Rudolf Vierhaus und Hans Erich Bödeker, noch die anhaltende internationale Diskussion des Themas, so durch Funkenstein, Sorkin u.a., berücksichtigt hat. Der dritte Teil ist "Medien der Wissensgenerierung und Wissen über Medien" gewidmet. Helmut Zedelmaier weist auf die Existenz von Verzeichnisliteratur wie Gessners "Bibliotheca universalis" in der Frühen Neuzeit hin. Rosmarie Zeller erörtert "das Gespräch als Medium der Wissensvermittlung" - ein weites Feld in der Frühen Neuzeit - wesentlich anhand von Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächsspielen. Hanspeter Marti bietet zum frühneuzeitlichen akademischen Unterricht eine Überblicksskizze mit Fokus auf den frühneuzeitlichen Dissertationen. Ingo Berensmeyer hingegen behandelt die "Diskursivierung und Medialisierung von Wissen im England des 17. Jahrhunderts" allgemein und (266) stellt dabei ein "neoklassizistisches Diskursideal" fest (279). Hans-Joachim Jakob bespricht Wissensfragen in der Theatrum-Literatur des 17. Jahrhunderts. Irmgard Scheitler weist auf Liedzitate, Melodieangaben, Verweise auf Instrumentalmusik und auf die Verknüpfung von Strophenformen mit Melodien im Rahmen frühneuzeitlichen Musikwissens hin. Angelika Linke bietet Beobachtungen zur "Historischen Semiotik des Leibes", d.h. zu Körperhaltung, Gestik und Kleidung im 17. und 18. Jahrhundert. Dagmar Schäfer geht den Formen und Funktionen chinesischer Inschriften der Ming Dynastie (1348-1645) nach.
Vielfache Zugangswege zum Wissen, verwickelt und verknüpft, werden geboten. Nicht zuletzt auch Hinweise auf Bestände und Verfahren, die uns heute fremd geworden sind, in der Frühen Neuzeit aber Wissen machten und ausgemacht haben. Einer chinesischen Enzyklopädie (die tatsächlich von Borges erfunden worden ist) zufolge gibt es "a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen". [1] Foucault ist bekanntlich derart begeistert von dieser Enzyklopädie gewesen, dass er mit der "Ordnung der Dinge" eines der wichtigsten Bücher zur Diskursivierung des Wissens geschrieben hat. So wird auch dieser thematisch wahrhaft enzyklopädisch ausgerichtete Sammelband zur Natur, Religion, den Medien, dem Wissen und seiner Transformation und Diskursivierung nicht nur einen aus der allenthalben spürbaren Sachkenntnis fließenden vielfältigen, sondern vielleicht dann doch auch einen richtungsweisenden Nutzen bewirken. Wer weiß? (Um mit der Grundskepsis diskursiver Wissenstransformation zu schließen). Verdient hätten es das Thema und der Ansatz, auf das Wissen zu sehen, allemal. Denn die Transformationen des Wissens stehen für die Vermittlung von Informationsangebot und -gebrauch. Sie verknüpfen die Institutionen des Wissens in ihrer immer auch nutzen-, markt- und anwendungsbezogenen Medialität mit dem Sozialen. Die Diskursivierung des Wissens steht mit ihrer Informationsökonomie letztlich für den historischen Prozess. Sie zu untersuchen ist ein anspruchsvolles Projekt: weder Materialkenntnis, Textexpertise, Ideengeschichte allein noch Mediengeschichte für sich werden ihm vollständig gerecht. Aber das Interesse geht auf eine neue Art von Organisationsgeschichte des Wissens, Institutionalisierungsgeschichte der Ideen und Kommunikationsgeschichte der Information zu.
Anmerkung:
[1] Jorge Luis Borges: Die analytische Sprache John Wilkins', in: ders.: Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München 1966, 212, zitiert nach: Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, 13. Aufl., Frankfurt am Main 1995, 17.
Martin Gierl