Peter Gohle: Von der SDP-Gründung zur gesamtdeutschen SPD. Die Sozialdemokratie in der DDR und die Deutsche Einheit 1989/90 (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 99), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2014, 481 S., ISBN 978-3-8012-4227-5, EUR 42,00
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Im Schatten der staatlichen Jubelfeiern zum 40. Gründungstag der DDR erfolgte am 7. Oktober 1989 im evangelischen Gemeindehaus in Schwante bei Berlin die Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP). Die Gründer, überwiegend Pfarrer und engagierte Laien aus der evangelischen Kirche, verstanden sich als Teil der aufbegehrenden Bürgerrechtsbewegungen, vor deren unverbindlichem Sammlungscharakter sie sich mit der Konstituierung als Partei zugleich abgrenzten. Die intellektuelle Bezugnahme auf das Erbe der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung stellte einen unmittelbaren Angriff auf den Machtanspruch der SED dar, der auf der Fiktion der "Einheit der Arbeiterklasse" beruhte. Im Gründungsprogramm trat man für eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster und eine ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft ein, zugleich befürwortete man - in linksprotestantischer Tradition - die Anerkennung der "Zweistaatlichkeit Deutschlands als Folge der schuldhaften Vergangenheit". Erst Anfang Dezember erfolgte ein Bekenntnis zur "Einheit der deutschen Nation", wobei der Vereinigungsprozess im Zuge gleichberechtigter Verhandlungen und der Ausarbeitung einer neuen gesamtstaatlichen Verfassung stattfinden sollte.
Der Parteiaufbau beruhte im Spätherbst und Winter 1989 auf einer Vielzahl von lokalen Gründungsinitiativen, die mangels technischer und organisatorischer Kommunikationsstrukturen mit der Berliner Zentrale relativ autonom agierten. Angesprochen fühlte sich das alternative, kirchliche und intellektuelle Milieu, auch die technische Intelligenz, kaum aber Arbeiter und kleine Angestellte. Insofern blieb die Neugründung einer sozialdemokratischen Partei, wie Spötter nicht ganz zu Unrecht meinten, eine "kirchliche Kopfgeburt". Ausführlich schildert Gohle die Konflikte zwischen dem linksalternativen Parteivorstand und den Vertretern der technischen Intelligenz, die in den Bezirken vielfach die innerparteiliche Diskussion dominierten. Letztere traten wesentlich radikaler für die nationale Einheit und die schnelle Einführung der Marktwirtschaft ein; zugleich hegte man an der Parteibasis die Befürchtung, dass die massenhafte Aufnahme von Reformsozialisten aus der SED/PDS zu einer Überformung der kleinen Gründungszirkel führen würde. Aus diesem Dilemma resultierte eine restriktive Aufnahmepraxis, was die bis heute anhaltende organisatorische Schwäche der SPD im Osten erklärt, zumal man später auch noch ein Kooperationsangebot der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands ausschlug.
Bei der westdeutschen SPD stieß die Neugründung zunächst auf Skepsis, zu einer Institutionalisierung der Zusammenarbeit kam es erst im Dezember 1989. Im Januar 1990 erfolgte dann die Umbenennung der SDP in SPD, gleichzeitig sprach sich die Delegiertenkonferenz der Ost-SPD gegen eine gemeinsame Wahlliste mit den anderen Bürgerrechtsgruppen aus. Bei den auf den 18. März 1990 vorgezogenen Volkskammerwahlen galt die SPD in Umfragen lange Zeit als sicherer Wahlsieger, umso bitterer war die Niederlage mit nur 21,8 Prozent der Stimmen. Das desaströse Ergebnis besaß viele Ursachen: die Erosion des sozialdemokratischen Traditionsmilieus nach 40 Jahren SED-Diktatur, der flächendeckende organisatorische Startvorteil der von Helmut Kohl geschmiedeten "Allianz für Deutschland", die unerwartete Stärke der PDS und nicht zuletzt die deutschlandpolitische Position der SPD, die einem "bedingungslosen Anschluss" die langsame Vereinigung nach Art. 146 Grundgesetz entgegenstellte. Damit war auch die Hoffnung der West-Linken gescheitert, auf diese Weise die verfassungsrechtliche Achse des vereinten Deutschlands mit der Aufnahme sozialer Grundrechte nach links verschieben zu können.
Die Enttarnung des charismatischen Parteivorsitzenden Manfred Böhme als langjährigen Stasi-Spitzel stürzte die Ost-SPD zusätzlich in eine tiefe Führungskrise. Heftig umstritten war, wie Gohle detailliert schildert, die Entscheidung der SPD-Fraktion zum Eintritt in die Regierung de Maizière; sie erfolgte gegen den Widerstand von Parteivorstand und -basis und sorgte für langanhaltende Konflikte. In der neuen Regierung war die SPD mit sieben Ministern und sechs parlamentarischen Staatssekretären gut vertreten, dennoch vermochte sie nur bei der Ausgestaltung der Sozialunion gewisse Erfolge zu erzielen. Bereits Ende Juli 1990 stand die Koalition am Rande des Zusammenbruchs, wenig später zerbrach sie an der Frage der Finanzierung der deutschen Einheit. Die Strategie, über die ungeliebte Regierungsbeteiligung maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung des Einigungsvertrages nehmen zu können, scheiterte am Widerstand der CDU und der Regierung Kohl, die letztlich die Bedingungen diktierte.
Auch bei den Verhandlungen mit der West-SPD mussten sich die Parteigründer pragmatischen Zwängen beugen und von unrealistischen Forderungen Abstand nehmen. Ab April 1990, urteilt Gohle, war die Ost-SPD "in nahezu allen Belangen völlig abhängig von ihren westlichen Partnern". In seiner Darstellung nehmen denn auch Fragen des Parteiaufbaus, der Vorbereitung der Kommunalwahlen im Mai 1990 oder der Professionalisierung des hauptamtlichen Apparats und der externen Politikberatung breiten Raum ein. Im Fokus steht dabei zumeist die Tätigkeit des Parteivorstands und der Volkskammerfraktion, die quellennah, manchmal auch zu ausladend dargestellt wird. Auf dem Vereinigungsparteitag Ende September wurde Wolfgang Thierse, der Vorsitzende der Ost-SPD, mit großer Mehrheit zum stellvertretenden Vorsitzenden der Gesamtpartei gewählt, während die Exponenten des Gründungszirkels von Schwante oft nur deprimierende Voten erzielten. Zugleich scharte man sich hinter die Politik des Kanzelkandidaten Oskar Lafontaine, dessen Einschätzung der ökonomischen und finanziellen Folgelasten zwar realistisch sein mochte, aber dem nationalen Pathos wenig entgegenzusetzen hatte. Bei der Bundestagswahl im Dezember 1990, deren Ausgang nicht mehr Gegenstand der Untersuchung ist, erzielte die SPD ihr schlechtestes Ergebnis seit 1957.
Clemens Vollnhals