Rezension über:

N. P. Brooks / S. E. Kelly (eds.): Charters of Christ Church Canterbury. Part 1 (= Anglo-Saxon Charters; 17), Oxford: Oxford University Press 2013, lii + 662 S., ISBN 978-0-19-726535-2, GBP 50,00
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N. P. Brooks / S. E. Kelly (eds.): Charters of Christ Church Canterbury. Part 2, Oxford: Oxford University Press 2013, l + 638 S., ISBN 978-0-19-726536-9, GBP 50,00
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Rezension von:
Andreas Bihrer
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Bihrer: Charters of Christ Church Canterbury (Rezension), in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 4 [15.04.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/04/25393.html


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Charters of Christ Church Canterbury

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Canterbury ist nicht nur der erste und älteste Erzbischofssitz in England, der seinen Primatsanspruch im Lauf des Mittelalters durchzusetzen vermochte, sondern die Stadt beherbergte auch eine Vielzahl prominenter geistlicher Institutionen. Unter diesen war der Konvent von Christ Church, die Klerikergemeinschaft an der Kathedralkirche, eine der wichtigsten kirchlichen Einrichtungen Englands. Die Erforschung seiner wechselvollen Geschichte in angelsächsischer und frühnormannischer Zeit, die sich auch an der sich mehrfach ändernden Verfassung und in den wandelbaren Lebensformen der Gemeinschaft zeigt, wird nun durch eine umfassende Neuedition der angelsächsischen Urkunden des Konvents auf eine neue Grundlage gestellt.

Das Urkundenkorpus, dessen bei weitem größter Teil heute in der British Library in London aufbewahrt wird, ist auch deswegen von herausragender Bedeutung, da Christ Church zu den vier Archiven mit der umfangreichsten Überlieferung aus angelsächsischer Zeit gehört. Zudem wird dort die älteste als authentisch anerkannte Urkunde eines angelsächsischen Königs aufbewahrt, die aus dem Jahr 679 stammt. Die älteste Urkunde für die Gemeinschaft von Christ Church datiert dagegen erst in das Jahr 798. Überdies beherbergte Christ Church das einzige englische Archiv mit einer fast durchgehenden Überlieferung bis zur normannischen Eroberung; so ist seit dem späten 7. Jahrhundert aus fast jedem Jahrzehnt zumindest eine Urkunde erhalten geblieben. Weiterhin enthält dieses Korpus die meisten Originale bzw. zumindest zeitgenössische Ausfertigungen aus der angelsächsischen Zeit aller Archive englischer Kirchen. Daneben bietet Christ Church auch eine sehr interessante frühnormannische Überlieferung. Aufgrund der zentralen Stellung von Canterbury sind die zum Teil lateinischen, zum Teil volkssprachlichen Urkunden für fast alle Aspekte der angelsächsischen Geschichte heranzuziehen. Mag dieser Bestand insbesondere für die wechselvolle Geschichte des Verhältnisses zwischen Erzbischof und Klerikergemeinschaft zentral sein, so betreffen viele Urkunden des Archivs aber auch andere Empfänger, darunter vor allem andere geistliche Institutionen in Kent.

Die in zwei Teilbänden gedruckte Urkundenedition erscheint als Band 18 der Editionsreihe 'Anglo-Saxon Charters', die von der British Academy und der Royal Historical Society finanziert wird. Der Band zu den Urkunden aus dem Archiv von Christ Church wurde, anders als in den bisherigen Bänden der Reihe 'Anglo-Saxon Charters' üblich, als Gemeinschaftswerk erarbeitet: S. E. Kelly, die Bearbeiterin von bislang neun Editionsbänden und damit des Großteils der bisherigen Reihe, zeichnet für die Urkundenedition und den Großteil der Kommentare verantwortlich. Sie darf als große Kennerin der Verhältnisse in Canterbury zur angelsächsischen Zeit gelten, da sie über die Urkunden des anderen bedeutenden Konvents in Canterbury, St Augustine's, promoviert wurde und die Urkunden aus diesem Klosterarchiv für die 'Anglo-Saxon Charters' im Jahr 1995 zum Druck brachte. N. P. Brooks, durch seine 1968 abgeschlossene Dissertation zu den vor 1066 entstandenen Urkunden von Christ Church und seine 1984 publizierte Geschichte des Konvents in angelsächsischer Zeit und zudem als Chairman der 'Anglo-Saxon Charters' von 1991 bis 2013 ebenfalls bestens ausgewiesen, erarbeitete den kleineren Teil der Kommentare und die Einleitung. Aufgrund der Forschungsinteressen von Brooks werden in den Kommentaren und in der Einleitung sehr ausführlich besitzgeschichtliche Fragen erörtert.

Der Editionsteil umfasst 184 Urkunden; von 49 Diplomen existieren mehrere Versionen, sodass nun insgesamt 233 Exemplare ediert vorliegen. Wurden all diese bereits publiziert, werden mit der Neuedition doch die zum Teil unzuverlässigen Ersteditionen des 19. Jahrhunderts ersetzt. Die Bedeutung des Archivs von Christ Church zeigt sich nicht zuletzt daran, dass 114 Urkunden nicht kopial überliefert sind und davon wiederum 84 als zeitgenössisch eingeordnet werden, was für die angelsächsische Überlieferung eine immens hohe Zahl darstellt. Die Editionsgrundsätze folgen den Vorgaben der Reihe 'Anglo-Saxon Charters', bei welcher ein - nicht immer eindeutig definierter - Mittelweg zwischen diplomatischem Abdruck und kritischer Edition gesucht wird, sowohl was die Darstellung des Urkundentexts als auch die Interpunktion angeht. Da es im angelsächsischen England keine festgelegte königliche Kanzleipraxis gab, ist die Prüfung der Authentizität von Urkunden dieser Zeit sehr problematisch: So sind die Methoden, welche die Diplomatik für die Geschichte der frühmittelalterlichen Reiche auf dem Kontinent entwickelt hat, für die angelsächsische Überlieferung nur eingeschränkt anwendbar. Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle das 'Markenzeichen' der Reihe 'Anglo-Saxon Charters', nämlich die umfassenden Kommentare zu den Urkunden, die in manchen Fällen Umfang und Qualität eines kürzeren wissenschaftlichen Aufsatzes erreichen. Die edierten Urkunden werden durch eine Vielzahl von für diese Reihe vorgesehenen Verzeichnissen erschlossen: So finden sich neben den Aufstellungen der Abkürzungen, Siglen, Abbildungen und Urkunden auch eine Konkordanz zu älteren Editionen sowie ein Register, in welches Personen, Orte, juristische Termini und Formeln sowie Titulaturen aufgenommen wurden.

Die Gliederung der Einleitung ist ebenfalls an den Vorgaben der Editionsreihe orientiert. Sie informiert zum einen über die Archivgeschichte sowie die Überlieferung und Authentizität der Urkunden (39-147), zum anderen über die Geschichte von Christ Church selbst; hierzu wird ein historischer Überblick über die Klerikergemeinschaft, die Geschichte der von Christ Church abhängigen geistlichen Institutionen, die Besitzgeschichte und die Viten der Erzbischöfe geboten (3-39 und 147-229). Mit 258 Druckseiten besitzt die Einleitung den Umfang einer eigenständigen Monographie. Dabei wird mit der Mehrfachüberlieferung von 49 Urkunden ein besonders interessantes Forschungsfeld angesprochen: Mit zum Teil umfangreichen Änderungen versuchten spätere Bearbeiter, die Urkundentexte neuen Bedürfnissen anzupassen. In den Kommentaren zu den Urkunden werden von Brooks und Kelly meist nur die Unterschiede erwähnt, hier bietet sich noch ein Feld für weitere Interpretationen durch die zukünftige Forschung. Neben einem Komplex schon besser erforschter 'Fälschungen' aus den Jahren von 1070 bis 1123, in denen insbesondere der Primat Canterburys propagiert werden sollte, ist aus frühnormannischer Zeit ein kurz nach 1070 angelegtes Kopialbuch zu erwähnen, das zwar verloren ist, aber aus drei späteren Abschriften rekonstruiert werden kann.

Auch der Band zu den angelsächsischen Urkunden von Christ Church hält den hohen Standard der Reihe 'Anglo-Saxon Charters' aufrecht. Inzwischen wurde in dieser 1973 etablierten Reihe etwa die Hälfte der erhaltenen angelsächsischen Urkunden publiziert; die Arbeit soll aber, so zumindest die Hoffnung des neuen Chairman Simon Keynes, aufgrund der umfassenden Vorarbeiten zukünftig zügiger vorangehen. An digitalen Ressourcen zur Erforschung der angelsächsischen Urkunden liegen mit dem 'Electronic Sawyer', in welchem die Regesten aufgenommen sind, und dem 'Kemble', der Faksimiles bietet, zwei wichtige Hilfsmittel vor. Für die 'Anglo-Saxon Charters' wurde bislang nur eine 'Trial Version' erprobt, in welcher Volltexte angelsächsischer Urkunden bis zum Jahr 800 elektronisch zugänglich gemacht wurden. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Versuch noch vor Abschluss der gedruckten Bände fortgesetzt wird.

Andreas Bihrer