Rezension über:

Julia Kloss-Weber: Individualisiertes Ideal und nobilitierte Alltäglichkeit. Das Genre in der französischen Skulptur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014, 399 S., 134 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-07193-3, EUR 54,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Caroline Gabbert
Kunstgeschichtliches Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Caroline Gabbert: Rezension von: Julia Kloss-Weber: Individualisiertes Ideal und nobilitierte Alltäglichkeit. Das Genre in der französischen Skulptur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 4 [15.04.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/04/25489.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Julia Kloss-Weber: Individualisiertes Ideal und nobilitierte Alltäglichkeit

Textgröße: A A A

Im Zentrum von Julia Kloss-Webers Untersuchung stehen sieben ausgewählte großformatige genrehafte Marmorskulpturen, deren Entstehungshistorie und Rezeptionsästhetik im Kontext von Kunsttheorie und Kulturgeschichte dargestellt wird. Unter anderem werden Werke Bouchardons, Falconets, Houdons und Pigalles betrachtet, darunter die "Frileuse" oder "Enfant nu à la cage".

Jeweils eine Werkanalyse steht für einen Themenkomplex des Genres, in dem die Bildhauer die kulturellen Tendenzen der Aufklärungszeit verarbeiten. Alle ausgewählten Werke zeichnet aus, dass diese in ihrer Ikonografie sowie in Format und Materialbearbeitung als Allegorien bezeichnet werden können. Allen ist gemeinsam, dass eine Allegorese und zugleich Ausdruckssteigerung der Skulpturen durch genrehafte Elemente stattfindet. Kloss-Weber kategorisiert die Werke nach der gestalterischen Funktion des Genres sowie nach Motiven. Diese umfassen Darstellungen von genrehaften Elementen im Bereich des Allegorischen, die Unterwanderung des Mythologischen durch genrehafte Momente, Frauenakte, Kinderfiguren, Idealbildnisse sowie genrehafte Antikentransformationen (26).

Die Auswahl der Werke ist durch den Kontext ihrer Herstellung begründet. Da die Skulpturen ihre Ausdruckssteigerung zu einem Großteil über die Wirkungsästhetik des Materials erreichen, untersucht Julia Kloss-Weber ausschließlich Großplastiken aus Marmor, die von Bildhauern der französischen Akademie geschaffen wurden. Auf diese Weise wird die Gestaltung einer genrehaften Ästhetik durch bildhauerische Praktiken gegenüber der Malerei abgegrenzt (27). Dies ist notwendig, da der "Genre"-Begriff, wie Klose-Weber ausführt, erst im späten 18. Jahrhundert formuliert wurde, sodass eine wirkungsästhetische Beschreibung über eine zeitgenössische Kunsttheorie, die auf die skulpturale Ästhetik Rücksicht nimmt, nicht möglich ist. Allerdings wäre demgegenüber zu bedenken, dass eine Emotionalisierung der Skulptur jedoch vor dem Hintergrund der Auflösung der Gattungsgrenzen bereits früher beobachtet werden kann. So forderte Jean-Baptiste Dubos bereits 1719 in seinem Traktat "Réflexions critiques sur la poésie et la peinture" eine wirkungsästhetische Ansprache des Betrachters. In Kloss-Webers Untersuchung wird die Verwendung des "Genre"-Begriffs deswegen auf diese erste, rein wirkungsästhetische Bedeutung eingegrenzt (23-24).

Die Gruppierung nach Motiven überzeugt dabei als Ordnungskriterium nur bedingt, da insbesondere der aufgeklärte Naturbegriff eine thematische Schnittmenge aller Werkanalysen bildet. Eine stringentere Übersichtlichkeit hätte dagegen eine Zusammenfassung zum Naturbegriff der Aufklärung geboten, abgegrenzt von den Beschreibungen der Werke. Vor dem Hintergrund von Funktionskontexten und Rezeptionsbedingungen der hier untersuchten großformatigen Skulpturen ist zu fragen, ob diese in ihrer Ikonografie und formalen Gestaltung nicht stärker, als von der Autorin behauptet, auf gemalte Allegorien bezogen sind. Am Beispiel der allegorischen "Morgante"-Darstellungen aus dem Umkreis Giambolognas, zeigt sich, dass die formale Abstraktion von Skulptur durch ein Gemälde des gleichen Sujets eine Konkretisierung erfährt und zugleich mit diesem in einen ästhetischen Wettstreit eintritt. Nimmt man diese Konstellation exemplarisch auch für französische Skulptur um 1800 an, so wird für diese die Möglichkeit einer wirkungsästhetischen Auseinandersetzung zwischen Malerei und Skulptur insgesamt zu wenig in die Interpretationen einbezogen. Es bleibt nur die Schlussfolgerung seitens der Autorin, dass die kunsttheoretischen Forderungen nach einer gefühlsmäßigen Ansprache in der "peinture de genre" des Betrachters für die Bildhauerei adaptiert wurden.

Anhand von Pigalles Skulptur "L'Amour embrassant l'Amitié" wird zwar ein Vergleich zwischen der Oberfläche der Skulptur und der Oberfläche gemalter Werke gezogen und daraus eine emotionale Einfühlung des Betrachters über die Körperdarstellung abgeleitet (116-117 und 124-125). Ein Blick auf ältere kunsttheoretische Quellen zur "Haut" von Marmorskulpturen und deren erotischer Tastwahrnehmung, die ab der Zeit um 1700 im Blick des Betrachters sublimiert wird [1], hätte jedoch eine genauere Interpretation der psychischen Energien ermöglicht, die durch die skulpturale Wirkungsästhetik hervorgerufen wurde.

Wie aus der Studie hervorgeht, waren die Ikonografie der Werke und ihre bildhauerische Konzeption eng an den Kontext ihrer Präsentation gebunden. Dieser förderte einen Modus der Betrachtung, der als nahsichtig und kontemplativ bezeichnet werden kann. Die Umsetzung eines Genremotivs in der Großplastik war zugleich mit der Einschränkung des Repräsentationscharakters verbunden. Die Skulpturen wurden teilweise in abgegrenzten Gartenquartieren oder in Wohnräumen adeliger Auftraggeber aufgestellt. An Edme Bouchardons bogenschnitzendem Amor ("L'Amour taillant son arc dans la massue d'Hercule") oder an Jean-Antoine Houdons "Frileuse", die beide auch einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurden, zeigt Kloss-Weber jedoch auch, dass die Ausdruckssteigerung der Figuren über eine Ansprache der Betrachterempfindung dann negativ bewertet wurden, wenn eine Überschreitung ästhetischer Normen beziehungsweise des Dekorums stattfand. Offenbar waren der Emotionalisierung der Skulptur Grenzen gesetzt, die nicht überschritten werden durften. In beiden Fällen betraf die Kritik, wie die Autorin darlegt, die Darstellung des Körpers, die das Motiv vermittelte.

Unter Einbeziehung des Leitaspekts bei der Gestaltung plastischer Genredarstellungen, der Darstellung des Körpers, die von einem neuen, aufgeklärten Naturbegriff beeinflusst ist, können sogar noch für die "Frileuse" Jean-Antoine Houdons, eines der emblematischen Werke der genrehaften Skulptur des 18. Jahrhunderts, neue ikonografische Perspektiven aufgezeigt werden (132-173). Zudem wird die Figur erstmals im Kontext der anderen allegorischen Frauendarstellungen Houdons betrachtet.

Die Interpretation der "Frileuse" von Julia Kloss-Weber beruht auf einem Vergleich mit Personifikationen des Winters aus der Gartenskulptur und in Porzellanstatuetten. Davon ausgehend wird das Frieren als ein physischer wie psychischer Ausdruck gedeutet, sodass die "Frileuse" als eine Personifikation der Melancholie verständlich wird. Die Interpretation der "Frileuse" im Katalog der Frankfurter Houdon-Ausstellung von 2009, die Houdons Mädchendarstellung in Bezug auf die Gemälde von Greuze als Allegorie eines "gefallenen Mädchens" deutete [2], widerspricht dabei der Melancholie-Interpretation nicht. Beide Perspektiven erscheinen als ein "Aus-sich-Selbst-Heraus-Sprechen" in der Figur angelegt, das Kloss-Weber als wirkungsästhetische Eigenschaft nennt.

Die Modernität der "Frileuse" und anderer plastischer Genredarstellungen liegt gerade in dieser Qualität der ikonografischen Mehrdeutigkeit, die auf die moderne "Gebärdenfigur" hinweist. Gleichzeitig ist die Bewertung eines Werks in Abhängigkeit von ihrem Aufstellungskontext ein Phänomen der Skulpturgeschichte um 1800. Fassbar wird dies beispielsweise an Paul Egells "Lykischen Apoll" im Schwetzinger Schlossgarten. Die ästhetische Bewertung der Figur als eine Antikenkopie wurde maßgeblich durch ihren Aufstellungskontext bestimmt, obwohl der Bildhauer die Skulptur als eine freie Variation eines antiken Vorbilds geschaffen hatte. [3]

Die Gestaltung plastischer Genredarstellungen erscheint letztlich durch verschiedene Faktoren begünstigt. Kloss-Weber versteht sie als eine Folge des Modernisierungsdrucks, den die aufgeklärte Kunstkritik auf Maler wie Bildhauer gleichermaßen ausübte und wurde durch die Auflösung der Gattungsgrenzen forciert. Dabei spielte bei der Umsetzung eines psychologischen Ausdrucks in der Skulptur, der sich in der Körperdarstellung vermittelt, der individuelle Funktions- und Aufstellungskontext der Werke eine entscheidende Rolle. Das divergierende Spektrum genrehafter Ikonografien und Formfindungen, das die Umsetzung des "Genres" in der Skulptur des 18. Jahrhunderts ausmacht, lässt sich deshalb nur in den einzelnen Werkanalysen fassen.

Dank der eingängigen Werkanalysen ergibt sich ein detaillierter Horizontalschnitt zum Genre in der französischen Skulptur des späten 18. Jahrhunderts. Die Konzentration der Fragestellung auf das Genre als ein Stilmerkmal und dessen Interpretation aus der rezeptionsästhetischen Perspektive erweist sich als vorteilhaft. Es gelingt, für die Produktion von Skulpturen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein erkenntnistheoretisches Modell aufzustellen, das eine Übertragbarkeit der Theorie und Interpretationsmethode ermöglicht.


Anmerkungen:

[1] Hans Körner: Der fünfte Bruder. Zur Tastwahrnehmung plastischer Bildwerke von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Artibus et Historiae 21 (2000), Nr. 42, 170-177.

[2] Maraike Bückling: Sinn und Sinnlichkeit, in: Jean-Antoine Houdon. Die Sinnliche Skulptur, Ausst. Kat. Frankfurt 2009, Liebieghaus-Skulpturensammlung, 2010, Musée Fabre, Montpellier, 2010, hgg. v. Maraike Bückling / Guilhelm Scherf, München 2009, 31-65.

[3] Tatjana Bartsch / Marcus Becke / Horst Bredekamp / Charlotte Schreiter: Das Originale der Kopie. Eine Einführung, in: dies.: Das Originale der Kopie. Kopien als Produkte und Medien der Transformation von Antike, Berlin 2010, 18-19.

Caroline Gabbert