Timothy S. Miller / John W. Nesbitt: Walking Corpses. Leprosy in Byzantium and the Medieval West, Ithaca / London: Cornell University Press 2014, XV + 243 S., ISBN 978-0-8014-5135-5, USD 35,00
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Dieser klar gegliederte und verständlich geschriebene Band setzt sich zum Ziel, die Behandlung der Lepra und den Umgang mit den Erkrankten im Byzantinischen Reich und im lateinischen Westen zu skizzieren. Dabei gelingt den Autoren ein gut lesbarer Überblick zur Behandlung der Krankheit im Mittelalter unter Berücksichtigung der neuen historischen und medizinischen Forschung, der zudem in seinem Anhang englische Übersetzungen von drei wichtigen Textpassagen bereitstellt.
Bereits die Erklärung des mittelalterlichen Namens der Krankheit als "Elephantiasis", als Elefantenkrankheit, führt direkt in ein wichtiges Themenfeld des Bandes: Er wird von Aretaios von Kappadokien über die Ähnlichkeit der Haut der Erkrankten mit der Elefantenhaut hergeleitet, und die entsprechende Passage aus Aretaios' Text stellt die erste Übersetzung des Anhangs dar. Für die Autoren des Bandes scheint es naheliegend, in ähnlichen etymologischen Erklärungsversuchen im karolingischen Lorscher Antidotarium oder beim berühmten Arzt Taddeo Alderotti im 13. Jahrhundert eine Verbindung zu diesem griechischen Text zu erkennen, den man bisher für wenig oder im Westen gar nicht rezipiert hielt. Die Autoren dieses Bandes zielen also auf die Darstellung der gemeinsamen Grundlagen byzantinischer und lateinischer Medizin im Mittelalter, die auf antiken Lehrschriften und der biblischen Auslegung der frühen Kirchenväter aufbaute; sie möchten damit die Nähe zwischen beiden Teilen der mittelalterlichen Welt aufweisen und sie schließlich in einem gemeinsamen Blick auf die Krankheit neu zu verstehen helfen. Die Einsichten des Bandes entstehen gerade aus diesem Vergleich.
Die "Elephantiasis" bezeichnete - anders als in der heutigen Medizin - seit der Antike die Lepra. Diese Krankheit wird in der heutigen Medizin als Morbus Hansen bezeichnet, doch ist die Identifikation mit der historischen Lepra ebenso problematisch wie die Identifizierung der mittelalterlichen Pest mit der vom Erreger "Yersinia pestis" hervorgerufenen Erkrankung. Das Krankheitsbild wird zuerst im ptolemäischen Ägypten beschrieben und könnte hierher durch die Soldaten Alexanders des Großen aus Nordindien eingeschleppt worden sein. Das erste Kapitel über die Lepra in der Antike zeichnet die zwei wichtigsten Ausgangspunkte für die Einschätzung des Mittelalters nach: (1) Die Grundlage für die medizinische Erklärung der Lepra boten die Traktate antiker Ärzte, die sich durchaus nicht über jeden Aspekt der Krankheit einig waren; so blieben etwa Ansteckungsrisiko und Unterformen der Krankheit auch im Mittelalter umstritten. (2) Eine christliche Sicht auf die Krankheit zog aus der alttestamentlichen Vorlage die Vorstellung einer Unreinheit der Betroffenen, die von der Gesellschaft zu separieren waren; daneben trat seit der Spätantike der vor allem auch im Byzantinischen Reich wirkmächtige Aufruf zur christlichen Nächstenliebe nach dem Vorbild neutestamentlicher Berichte über das Leben Jesu. So riefen etwa Gregor von Nyssa (dessen Predigt zu Mt 25,40 in Übersetzung als Anhang 2 dem Band beigegeben ist) und Gregor von Nazianz zur Hilfe gegenüber den Betroffenen auf; diese Hinwendung habe sogar dazu geführt, dass man in Byzanz die tatsächlich in der Gesellschaft weit verbreitete Furcht vor einer Ansteckung durch Berührung oder Nähe zu den Leprösen in den Schriftquellen in der Regel nicht äußerte, da dies den Eindruck unchristlicher Unbarmherzigkeit auf sich gezogen hätte. Allerdings zeigt das fünfte Kapitel zum lateinischen Westen die weitgehende Nähe gerade frühmittelalterlicher Kommentare zu den byzantinischen Texten.
Dennoch - oder gerade deshalb - richtete man in Byzanz wie im lateinischen Westen Leprosarien ein, in denen die Betroffenen behandelt werden und zugleich von der Gesellschaft getrennt leben konnten; sie werden im vierten (Byzanz) und sechsten (lateinischer Westen) Kapitel behandelt. Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere der Fall des Leprosariums des Hl. Zotikos bei Konstantinopel und die Nähe des Gründers zu arianischen Vorstellungen, sodass im Umgang mit seiner Gründung zugleich indirekt Positionen der Orthodoxie zwischen Toleranz, Ausschluss und Konkurrenz verhandelt wurden. Dass die Aussätzigen jedenfalls nicht grundsätzlich ausgeschlossen und gemieden wurden, sondern lediglich mehr oder weniger reglementiert mit den Gesunden koexistierten, greift die Ergebnisse der jüngeren Forschung vor allem zum mittelalterlichen Westen auf. Ein abschließendes siebtes Kapitel fasst die Erkenntnisse zum Lazarusorden als Sonderform der Leprosengemeinschaft zusammen. Ob eine mehrfach wiederholte These des Bandes - nämlich dass die Furcht vor den Leprösen im lateinischen Westen deutlich stärker ausgeprägt worden sei - nicht eher auf unterschiedliche Texttraditionen als auf einen tatsächlichen Unterschied in der Praxis zurückzuführen ist, bleibt sicherlich weiter zu fragen. Hier wird deutlich, welchen Nutzen die stärkere Einbeziehung der materiellen Evidenz (etwa aus dem Umfeld von Leprosarien) für das Anliegen dieses Bandes gehabt haben könnte; auch eine stärkere Reflexion über die sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen zwischen den west- und mitteleuropäischen Reichen und dem wesentlich stärker zentralisierten Byzantinischen Reich wären vielleicht nützlich gewesen.
Neben der Predigt Gregors von Nyssa und der Übersetzung des einschlägigen Kapitels aus dem Werk Aretaios von Kappadokiens bietet der abschließende Appendix auch einen Teil der Leichenrede auf Johannes Chrysostomos. Ein vermischter, kurzer Personen-, Sach- und Ortsindex schließt den Band ab. Der Band bietet in seiner konzisen Klarheit eine gute Einführung in den Umgang mit der Lepra im Mittelalter. Kleinere typografische Fehler, die sich gelegentlich in den Text eingeschlichen haben, täuschen über diesen Befund nicht hinweg; ebenso wenig die Überlegungen, dass man nach der Lektüre etwa noch eingehender über das Verhältnis von Armut und Lepra und vor allem den archäologischen Befund nachdenken möchte. In Forschung und Lehre wird dieser Band gleichermaßen seine Leser finden.
Romedio Schmitz-Esser