Ulrich Köpf (Hg.): Die Universität Tübingen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung (= Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte; 25), Ostfildern: Thorbecke 2014, 439 S., ISBN 978-3-7995-5525-8, EUR 34,80
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Der Band enthält die - z.T. überarbeiteten - Vorträge einer im Jahr 2012 in Kloster Weingarten von dem Herausgeber und dem inzwischen verstorbenen Sönke Lorenz veranstalteten Tagung. Er fügt sich in eine Reihe früherer Bände ein, in der sich diese Herausgeber der Geschichte der Universität Tübingen widmeten. Der Band ist dem Verstorbenen gewidmet.
Wie der Titel anzeigt, bezieht er sich auf die Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg bis hin zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Es sei ein bislang nur selten behandelter Abschnitt der Tübinger Universitätsgeschichte. So betrete man fast Neuland. "Geistesgeschichtlich" seien diese Jahre von den drei genannten Strömungen geprägt gewesen, ob auch in Tübingen, könne vielleicht geklärt werden. Immerhin und zu Recht werde gerne darauf verwiesen, dass Tübingen nie mit seiner lutherischen Orthodoxie gebrochen habe, und dass die Universität neue Disziplinen und wissenschaftliche Neuerungen allenfalls verspätet im Vergleich mit anderen rezipiert habe.
Den zwölf Beiträgen und die den Stand des Wissens resümierende Einleitung Lorenz' ist zuzugestehen, dass sie sich mehrheitlich der vorgegebenen Fragestellung stellen. Nur bedingt trifft das allerdings auf drei Untersuchungen zu. Das liegt zum Teil an den Themen, zum Teil an einer zu engen Fixierung auf die behandelten Personen. "Zwei hervorragende Vertreter" der Medizinischen Fakultät, die nicht einmal zeitlich zusammengehören, zu porträtieren, ergibt für die erwünschte Fragestellung wenig. Dass die sachlich überzeugende Darstellung der Mathematik und Naturlehre dieser Jahre kaum für geistesgeschichtliche Phänomene Antworten bereithält, liegt in der Natur des Themas. Und auch die in sich einnehmende Untersuchung des "Wandels des musikalischen Repertoires am Evangelischen Stift" von Orlando di Lasso bis zur Mannheimer Schule, kann auf die zugrunde gelegte Fragestellung eigentlich kaum befriedigend antworten, wie selbst ihr Autor anmerkt. Da müsste es klar sein, besser: klar sein können, was Aufklärung oder Pietismus in der Musik heißen könnte. Immerhin wird deutlich, dass die musikalische Praxis, wenn auch wiederum verspätet, der zeitüblichen Entwicklung folgte. Das Tübinger Beharrungsvermögen erweist sich demnach auch in diesem Umfeld als mächtig.
Von den der Sache nach einschlägigen Beiträgen eröffnet, wie erwähnt, die im Blick auf Tübingen kundige Einleitung den Band. Lorenz' Überblick hätte es freilich gutgetan, gelegentlich auch die Entwicklung an anderen, verwandten Universitäten mit heranzuziehen. Für die nachfolgenden Aufsätze bereitet die Einleitung jedoch den Boden gut vor. Der die allgemeinen Grundlagen Tübingens und die seiner Universität darstellende Beitrag Wilfried Setzlers, der an die Einleitung anschließt, unterrichtet kompetent über diese äußeren Bedingungen. Ihm folgen dann die im Blick auf die Fragestellung wesentlichen Beiträge. Da ist es nicht zufällig, dass die meisten sich mit der Theologischen Fakultät befassen. Es sind sechs, denen zwei zur Philosophischen Fakultät gegenüberstehen. Allerdings ist darauf zu verweisen, dass die Theologen ihre Karriere meist in der Philosophischen Fakultät begannen. So wird bei deren Vorstellung viel Wichtiges auch zur artistischen Fakultät - wie sie gelegentlich noch genannt wird - berichtet. Daher rangiert auch die Untersuchung der Mathematiker / Physiker, von der bereits gesprochen wurde, im Bereich dieser Fakultät. Nur der zweite Beitrag, der sich mit dem Rhetoriker Christoph Kaldenbach beschäftigt - es ist eine erweiterte Darstellung der älteren Arbeiten Wilfried Barners - gehört in die jüngere Philosophische Fakultät. Die Fächer, die als Philosophie vorgetragen wurden, führten damals fast immer auch in die theologische Fakultät - und zwar bei allen Konfessionen. Insofern ist eine säuberliche inhaltliche Trennung dieser beiden Fakultäten nur bedingt sinnvoll.
Anders steht es bei der Jurisprudenz, der ebenfalls zwei Beiträge gewidmet sind. Der eine gibt einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung der Fakultät. Er informiert sachlich über diesen Verlauf, beansprucht aber nicht, Neues zu bringen. Dass er fast nur rechtshistorische Literatur zugrunde legt, bringt ihn um viele Einsichten, die in den nicht genutzten aber zentralen Arbeiten hätten nachgelesen werden können. Der zweite Aufsatz stellt die Spruchtätigkeit der Tübinger Juristen dar, die sich auf die späten Hexenprozesse bezieht, wobei erneut die wenig aufgeklärte Einstellung der Fakultät festzustellen ist.
Die in Anbetracht der starken orthodoxen Haltung Tübingens so wichtige Theologische Fakultät, um zu ihr zurückzukehren, wird in einem sehr soliden und kenntnisreichen Überblicksartikel von Ulrich Köpf vorgestellt. Trotz Speners zweijährigem Tübinger Aufenthalt und trotz immer neuer Anhänger dieser um sich greifenden Frömmigkeitsbewegung, konnte der Pietismus nie so recht Fuß fassen. Allenfalls in gemäßigter Form - Christian Eberhard Weismann, dem Joachim Weinhardt einen ausführlichen und die schwankenden Optionen seines Helden einleuchtend erklärenden Artikel widmet, war einer dieser Vertreter - wurden pietistische Auffassungen rezipiert. Das bestätigt auch die umfassende, kluge Darstellung des schillernden Kanzlers und Primarius der Theologischen Fakultät Christoph Matthäus Pfaff, die Wolf-Friedrich Schäufele beisteuert. Der überaus begabte typische Spross der Tübinger Familienuniversität, der selbst vor Betrügereien nicht zurückschreckte, eitel und dominant, schloss sich eklektisch je nach Lage allen drei Richtungen an. Zugleich suchte er die theologische Ausbildung zu verbessern, was nur mäßigen Erfolg hatte. Über diesen bereits öfter dargestellten Mann bringt der Beitrag manch Neues.
Die im Stift früh einsetzende Aufnahme pietistischer Praxis und Ideen, gegen die die Fakultät sich nur teilweise durchzusetzen vermochte, führte zu einer milden Integration mancher deren Seiten. In einem klaren, überzeugenden Beitrag analysiert Wolfgang Schöllkopf diese Entwicklung und ihre Folgen. Ein größeres Gewicht der Praxis während der Ausbildung - das hatte auch Pfaff gefordert - und eine offenere, den Individualismus stärkende Religiosität folgten aus diesen zum Teil erbittert geführten Diskussionen. Eine besondere "württembergische geistige Gemengenlage" resultierte aus ihnen. Zu ihr trugen zwei weitere bedeutende Professoren bei. Reinhold Rieger beschreibt in einem abgewogenen, klaren Beitrag "Georg Bernhard Bilfinger zwischen Philosophie und Theologie" dessen bunte Karriere, die der herzoglichen Gunst viel verdankte. Unter dem spröden Titel "Die universitäre Berufungs- und Zensurpraxis im 18. Jahrhundert am Beispiel des Tübinger Professors Israel Gottlieb Canz" analysiert ein Doktorand - Bernhard Homa - Werk und Wirken des kaum erforschten und insoweit recht unbekannten Canz. Der sollte, neben anderen, eine nicht geringe Rolle für die Entstehung des Tübinger Idealismus spielen. Homas glänzender Beitrag macht das mehr als einleuchtend. Er stellt nochmals die vielschichtige Gemengenlage zwischen Tübinger Orthodoxie, Pietismus, Leibniz-Wolffscher Aufklärung und Kant dar. Insgesamt handelt es sich also um ein schönes Buch, das durchaus auch Neues bringt.
Notker Hammerstein