Stephen Wall: The Official History of Britain and the European Community. Volume II: From Rejection to Referendum, 1963-1975 (= Government Official History Series), London / New York: Routledge 2013, XII + 668 S., ISBN 978-0-415-53560-1, USD 115,00
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Seit dem Jahr 1919 leistet sich die britische Regierung den Luxus einer offiziösen Geschichtsschreibung, die herausragende Historiker ihrer Generation vollen Aktenzugang zu Themen von öffentlichem Interesse gewährt. Die Reihe, die sich zunächst auf "wartime histories" konzentrierte, wurde auf Anregung von Premierminister Harold Wilson 1966 um eine "peacetime series" ergänzt. Stephen Wall hat nun 11 Jahre nach Alan Milward den zweiten Band zur britischen Europapolitik vorgelegt. [1] Damit tritt der Autor kein leichtes Erbe an, da Milward nicht nur einer der profiliertesten Wirtschaftshistoriker Großbritanniens war, sondern auch ein herausragender Gelehrter der Geschichte der europäischen Integration mit erfrischender Neigung zum pointierten Urteil. Im Gegensatz zu Milward ist Stephen Wall kein Chronist der Politik, sondern ein Praktiker der Macht. Als Karrierediplomat war er Privatsekretär von fünf britischen Außenministern und Premierminister John Major sowie EU-Botschafter und europapolitischer Berater von Tony Blair. Stephen Wall kennt sich also bestens in den Korridoren von Whitehall und Brüssel aus. Diese Kenntnis der Innenperspektive hat ihre Vor- und Nachteile.
Ohne Frage hat Stephen Wall mit dieser Studie archivalische Kärrnerarbeit geleistet. Geradezu akribisch hat der Autor die Regierungsakten auf höchster Ebene ausgewertet und gibt auf 590 Textseiten tiefe Einblicke in den Ablauf der Regierungsarbeit unter den Premierministern Harold Macmillan, Alec Douglas-Home, Harold Wilson und Edward Heath. Entstanden ist eine traditionelle Diplomatiegeschichte, die darlegt, was Diplomaten und Politiker dachten, einander schrieben, taten oder unterließen. Allerdings liegt genau darin auch eine fundamentale Schwäche des Buches, das nach dem Motto "Britannia rule the pages" geschrieben wurde. Wall beschreibt die komplexe Geschichte der britischen Europapolitik allein aus der Perspektive britischer Akten und verzichtet nahezu vollkommen auf die Auswertung von Fachliteratur.
Die perspektivische Engführung irritiert angesichts der Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes. Die Entscheidung für oder gegen ein vereintes Europa mit britischer Beteiligung berührte von 1963 bis 1975 nahezu alle Großthemen der internationalen Politik im europäischen und transatlantischen Raum, da das Vereinigte Königreich aufgrund seiner insularen Lage und seiner Geschichte in beiden Kulturkreisen verankert war. Für das wirtschaftlich angeschlagene Großbritannien war der Beitrittsantrag zur EWG ein Schritt, der sowohl den Anschluss an den wichtigsten europäischen Wirtschaftsraum als auch an die politische Entscheidungsfindung auf dem Kontinent sichern sollte. Dies war jedoch mit prekären Balanceakten verbunden. Die engere Assoziierung mit Europa sollte auf keinen Fall die Beziehungen zum Commonwealth und die "special relationship" mit den USA gefährden. Ferner war man in London nicht gewillt, sich der deutsch-französischen Führung innerhalb der EWG unterzuordnen. Ein weiterer Balanceakt betraf die Verteidigungspolitik. In der NATO sollte Großbritanniens privilegierte Rolle gewahrt werden und daher die Zahl der Nuklearmächte im Bündnis begrenzt bleiben. London war folglich weder an einem nuklear bewaffneten Frankreich noch an weitreichenden Mitspracherechten der Bundesrepublik Deutschland in Fragen der Bündnisstrategie interessiert. Nicht zuletzt sollten die Verteidigungsausgaben dauerhaft gesenkt werden.
Daraus erwuchsen zahlreiche Herausforderungen, deren größte der französische Staatspräsident Charles de Gaulle verkörperte. Dieser torpedierte von 1963 bis 1969 mit seiner Politik der "Grandeur" die NATO und die EWG von innen, mit dem Ziel, den transatlantischen Einfluss in Europa zurückzudrängen und Frankreich mittelfristig zum Hegemon einer dritten, europäischen Supermacht zwischen Ost und West zu machen. Aus diesem Grund betrachtete de Gaulle den britischen Beitrittsantrag primär als trojanisches Pferd der USA und belegte ihn zweimal mit einem Veto. Solange de Gaulle in Frankreich das politische Geschehen diktierte, rückte ein britischer EWG-Beitritt in weite Ferne. Dies schloss allerdings nicht aus, dass man sich zuweilen auch in Whitehall hegemonialen Träumereien hingab. Selbst wenn in den regierungsinternen Papieren immer wieder betont wurde, dass der EWG-Beitritt mit großen Unwägbarkeiten verbunden sei, schimmert in den britischen Akten die Annahme durch, Großbritannien könne mittelfristig nur eine Führungsrolle in der EWG zufallen. Diese wenig realistische Einschätzung kollidierte wiederum mit der zeitgleichen Etablierung der deutsch-französischen Achse innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, die sich rasch zum Motor des europäischen Integrationsprozesses entwickelte.
Letztlich unterminierte die Einbindung der europäischen Staaten in zwischenstaatliche und supranationale Organisationen die Gleichgewichtspolitik als klassische Leitidee der britischen Außenpolitik. Bereits nach der ersten Ablehnung des britischen Beitrittsantrags zur EWG durch Präsident de Gaulle wurde den Entscheidungsträgern in London schnell klar, dass die strukturellen Rahmenbedingungen der internationalen Politik nach 1945 London kaum Handlungsspielräume ließen. Versuche, die Westeuropäische Union (WEU) oder die Europäische Freihandelszone (EFTA) als Foren institutioneller Gegenmachtbildung in Stellung zu bringen, erwiesen sich als wenig praktikabel. Die WEU war keine Alternative zur mächtigeren NATO und die EFTA keine zur ökonomisch potenteren EWG. Letztlich mussten Macmillan, Wilson und Heath erkennen, dass Großbritannien einen hohen Preis für das Versäumnis bezahlte, sich am zweiten großen schöpferischen Akt der Nachkriegsgeschichte, der Schaffung der EWG, zu beteiligen. Die Geschichte des EWG-Beitritts, der ökonomisch keineswegs unproblematisch für die Briten war, war machtpolitisch somit ohne Alternative und ist damit auch immer die Geschichte eines weltpolitischen Abstiegskampfes. Letztlich waren für London die Beitrittsverhandlungen ein Spiel auf Zeit. Je länger sich die Beitrittsverhandlungen hinzogen, umso mehr verlor Großbritannien den Anschluss an Kontinentaleuropa und umso schwieriger wurde eine Integration Englands in die sich immer stärker verflechtenden Strukturen der EWG.
Während Wall jeden Winkel auf der Ebene der britischen Entscheidungsträger ausleuchtet, bleiben die Handlungsantriebe der übrigen Staatsmänner unscharf. Die politischen Motive zentraler Akteure jenseits des Atlantiks und des Ärmelkanals werden allein aus britischen Akten erschlossen, ganz so als gäbe es keine einordnenden Spezialstudien. Die "Bibliographie" enthält nur 45 Titel, deren überwiegender Teil autobiographische oder biographische Studien auflistet. Diese Herangehensweise kompromittiert leider die geleistete Quellenarbeit. Auch die Leserfreundlichkeit des Buches kann als steigerungsfähig bezeichnet werden. Nach einordnender Interpretation sucht man weitgehend vergebens. Die Gliederung bietet ebenfalls wenig Orientierungshilfe, da es nur fünf große Hauptkapitel gibt und auf eine Zusammenfassung verzichtet wurde. Der Fachmann wird aufgrund der fleißigen Quellenarbeit um die Lektüre des Buches nicht herumkommen. Der interessierte Laie wird allerdings in der Flut der Quellen ertrinken, da es in Walls großem Panorama der britischen Europapolitik keine rettenden Hügel gibt, die einen Blick von einer höheren Ebene ermöglichen würden.
Anmerkung:
[1] Alan S. Milward: The UK and The European Community. Volume I: The Rise and Fall of a National Strategy 1945-1963, London 2002.
Thomas Freiberger