Hans-Christof Kraus: Bismarck. Größe - Grenzen - Leistungen, Stuttgart: Klett-Cotta 2015, 330 S., ISBN 978-3-608-94861-5, EUR 19,95
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Neue Bismarck-Deutungen bieten die Bücher, die aus Anlass seines 200. Geburtstages erschienen sind, nicht. Für die Biographie von Hans-Christof Kraus gilt das ebenfalls. Wenn man sie in eine der Deutungslinien einordnen will, dann in diejenige, für die Otto Pflanzes Werk [1] steht: Die Reichsgründung als das Werk Otto von Bismarcks; aus dem preußischen Staatsinteresse heraus erschaffen, mit dem Jahr 1866 als "Scheidepunkt" (109), an dem die traditionelle dynastische Legitimität durch die nationale ersetzt oder ergänzt worden sei. Diese "Neugründung Deutschlands" (116) stellt Kraus als das ureigenste Werk Bismarcks dar, nicht generalstabsmäßig geplant, nicht einmal als zwangsläufig angesehen, stets habe er sich Alternativen so lange wie möglich offen gehalten. Bismarck pflegte das "Conjectural-Politik" (138) zu nennen. Kraus stimmt diesem Selbstbild zu: Bismarck als Conjectural-Politiker, der die "Kunst des Warten-Könnens" beherrschte (138). Den Krieg habe er nur als letztes politisches Mittel eingesetzt und den Präventivkrieg zeit seines Lebens abgelehnt. Immer wieder über die Legitimität des Krieges reflektiert zu haben, gehöre zur Größe Bismarcks.
Worin bestand Bismarcks "Größe"? Das Kapitel II, das den Weg zum Nationalstaat verfolgt, ist so überschrieben - als Feststellung, ohne Fragezeichen, doch das Nachdenken darüber durchzieht das gesamte Buch, auch das Kapitel III, in dem nach Bismarcks "Grenzen" gefragt wird, und IV, in denen es um seine "Leistungen" geht. Das erste Kapitel (Persönlichkeit) hat die Aufgabe, Bismarcks politische Lernprozesse sichtbar zu machen. Als er zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt wurde, sei "seine Persönlichkeit in jeder Hinsicht 'fertig'" (79) gewesen. Nach vollendetem Werk sieht Kraus jedoch einen erneuten "Persönlichkeitswandel", der zur "Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit" geführt habe (208). In dieser Selbstüberschätzung" seien die drei "großen Fehlleistungen" Bismarcks angelegt gewesen: der Kampf gegen den politischen Katholizismus und gegen die Sozialdemokratie sowie die "antipolnischen Germanisierungsbestrebungen im preußischen und deutschen Osten" (208).
Bismarcks Größe zeige sich, so Kraus, nicht zuletzt in seiner "Wirkmächtigkeit" (81), die er im Abschnitt Epilog in drei "Leistungen" bündelt. Sie sollen nun ein wenig genauer betrachtet werden, da an ihnen das Grundmuster dieser Biographie sichtbar wird. "Die vielleicht wichtigste bleibende Leistung" - das einschränkende "vielleicht" erschließt sich nicht aus der Darstellung - sei die "deutsche Einheit". Damit meint Kraus nicht ausschließlich die Staatsgründungsakte. Bismarck habe den Deutschen ein "gesamtdeutsches politisches Bewusstsein vermittelt" (308). Vor dieser Tat wähnt Kraus nur die "alten Partikularismen der traditionellen deutschen Kirchturmspolitiker" (212) am Werk. Damit blendet er breite Forschungsstränge der letzten Jahrzehnte gänzlich aus. Die 'deutsche Nation', das 'deutsche Volk' als nationalpolitischer Allianzpartner Bismarcks erscheint bei Kraus als ein handlungsunfähiges Kollektiv, nicht als ein vielfältig organisierter Akteur. Er thematisiert weder die Bedeutung der auf den preußisch-unitarischen Nationalstaat ausgerichteten Nationalbewegung noch die Tradition der deutschen Föderativnation und der alternativen nationalpolitischen Handlungskonzepte, die auf sie zugeschnitten waren. Kraus entfaltet seine Deutung Bismarcks als Schöpfer der deutschen Nation und ihres Nationalstaates nicht gegen widersprechende Forschungspositionen. Diese tauchen nicht auf. Das gilt für die Neubeurteilung des Deutschen Bundes ebenso wie etwa für die Forschung zum Nationalverein. Auch das Literaturverzeichnis nennt dazu nichts.
Eine weitere "zentrale Leistung des 'eisernen Kanzlers' war, ist und bleibt [...] die Grundlegung des deutschen Sozialstaates" (309). Bismarcks energisches sozialpolitisches Engagement, auch seine "in der Sache reichlich abenteuerliche historische Herleitung seiner Sozialpolitik" aus der "alten preußischen Staatstradition eines vermeintlich 'sozialen Königtums'" (230f.) werden detailliert vorgestellt. Doch es fehlt gänzlich ein Blick auf die Forschung, welche die deutsche Sozialpolitik in der Bismarck-Ära in das europäische Umfeld einordnet oder den kommunalen Strang sozialpolitischer Leistungen betrachtet. Auch hier werden andere Forschungspositionen nicht erwähnt; weder im Text noch im Literaturverzeichnis.
Schließlich gehöre zu Bismarcks großen Leistungen "die ab 1871 betriebene aktive europäische Friedenspolitik" (310). Die ausführlichen Analysen von Bismarcks Außenpolitik wird man den eindringlichsten Teil dieser Biographie nennen dürfen. Kraus' Bilanz lautet: Bismarck "dachte stets von Europa her" (279), und in der Endphase seiner Regierungszeit habe seine gesamte Außenpolitik auf die "Bewahrung des Friedens unter allen Umständen" (290) gezielt. Auch hier ist anzumerken, dass man nicht mit dem gegenwärtigen Forschungsstand vertraut gemacht wird. Die "Neue Friedrichsruher Ausgabe", die zu Bismarcks Außenpolitik nach 1871 bislang nicht edierte Quellen zugänglich macht, hat Kraus nach Ausweis des Quellen- und Literaturverzeichnisses nicht ausgewertet.
Eberhard Kolb hat jüngst in seiner Bismarck-Biographie für eine "konsequente Historisierung Bismarcks" plädiert. [2] Das meint vermutlich auch Kraus, wenn er schreibt, es sei an der Zeit, sich Bismarck "etwas gelassener zu nähern" (10). Weder Hagiographie noch Dämonisierung seien heute noch angebracht. Von beidem hat er sich zweifellos fern gehalten. Er umkreist die Trias, die der Untertitel nennt. Doch so nachdrücklich er die prekäre Position Bismarcks betont - kein Bonaparte, sondern stets vom Vertrauen seines Königs abhängig - und so differenziert er darlegt, wie sich Bismarck von den jeweiligen Möglichkeiten leiten ließ, die das gesamte politische Umfeld ihm eröffneten, im Zentrum steht für Kraus ein Schöpfer-Bismarck: Schöpfer des deutschen Nationalstaates und der deutschen Gesamtnation, der sein Werk seinen Gegnern ebenso wie seinen Freunden und Förderern abringen musste. Die Reichsgründung - "ganz und gar das Werk des Einen", so hatte es Max Lenz 1902 genannt. [3] In die Nähe dieser Position sollte eine entspannter Blick auf Bismarck und seine Zeit nicht führen. Notwendig wäre vor allem, Bismarcks politisches Werk - und nicht nur seine Außenpolitik - in europäischer Perspektive zu sehen. Erst dann ließe sich ermessen, was sein spezifischer Anteil auf dem Weg in den Sozialstaat oder am Kulturkampf oder an Symbiose von Monarchie und Nation gewesen ist.
Anmerkungen:
[1] Otto Pflanze: Bismarck. Band 1: Der Reichsgründer, München 1997; Band 2: Der Reichskanzler, München 1998 (englische Ausgabe: 3 Bände, 1990).
[2] Eberhard Kolb: Bismarck, München 2009, 137; stark erweitert: München 2014, 180.
[3] Max Lenz: Geschichte Bismarcks, Leipzig 1902, 366.
Dieter Langewiesche